© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Der Flaneur
Unterspülte Fundamente
Paul Leonhard

Die Bauarbeiten beginnen kurz nach dem Frühstück. Es sind die Kinder, die mit ihren Händen und kleinen Schaufeln Sandhügel aufschütten. Ihre Eltern schauen schmunzelnd zu. Aber nicht lange, dann halten es die Väter nicht mehr aus. Sie knien sich zu ihren Sprößlingen, um zu helfen. Und mehr als das. Allmählich verdrängen sie die Kleinen, die zunehmend mit dem Job eines Hilfsarbeiters vorliebnehmen oder sich ganz aufs Zusehen beschränken müssen.

Als erstes wird das Material herantransportiert, aufgeschüttet, verdichtet. Im Abstand weniger Meter entstehen stattliche Burgen mit kunstvollen Wällen und Wassergräben. Zwei junge Schweizer haben einen Sandhaufen aufgehäuft, der wohl das Gotthardmassiv darstellen soll. Von beiden Seiten beginnen sie einen Tunnel vorzutreiben. Nebenan erhebt sich eine Festung mit Vorburgen und Mauern. Die Türme bestehen aus glattem Sand, wirken mächtig.

Kinder weinen aufgrund der Zweckentfremdung ihrer Förmchen durch die Väter.

Nach drei Stunden endet die Bautätigkeit. Es ist Essenszeit. Die Natur bekommt ihre erste Chance, die Standhaftigkeit der Wehranlagen zu testen. Erste Fundamente werden unterspült, Türme fallen  zusammen. Dann kommen die Bauherren zurück. Einige beginnen zu restaurieren, andere mit dem Neubau, dritte haben es satt, verschwinden im Meer oder hinter Zeitungen und Romanen. Einige Kinder suchen weinend Trost bei den Müttern, weil die Väter ihnen ihr Sandspielzeug entwendet haben, um die kleinen bunten Formen als Schmuck für die Sandburgen zu mißbrauchen.

Als die Sonne an Kraft verliert, ruhen die Bauarbeiten. Die Förmchen werden eingesammelt und in Plasteeimern verstaut. Die Burgherren geben ihre Anlagen auf, ziehen sich zum Abendbrot zurück. Wasser und Wind haben jetzt eine Nacht lang Zeit, alle Spuren des Baubooms verschwinden zu lassen. Die Reste werden am Morgen vom Strandmeister plattgeharkt. Der muß sich beeilen, bald werden die Bauherren am Strand erscheinen.