© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Staatspleiten waren über alle Jahrhunderte hinweg üblich. Doch kein Land wurde seit 2007 in die Insolvenz entlassen. Banken und Staaten werden „gerettet“ und die Risiken damit nur verschoben. Keinem Schuldner wurde je geholfen, indem man ihm Geld lieh.
Und täglich grüßt die Finanzkrise
Joachim Starbatty

Zehn Jahre nach der Finanzkrise gibt es keinen Grund zum Feiern. Die verbliebenen Risiken lassen uns nicht beruhigt zurückblicken. Im Gegenteil: negative Realzinsen, das aufgeblähte Target-II-System – bei dem Zentralbanken bei anderen Zentralbanken wie in der Eckkneipe nebenan anschreiben lassen können – und immens angestiegene Staatsschulden. Kurz: Die Politiker kurieren die Finanzkrise mit genau den Mitteln, die sie hervorgebracht haben.

Die Krisen in den USA und in Europa haben einander befeuert. In Amerika erwarben Leute Immobilen, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten, mit Geld aus sozialpolitischen Förderprogrammen und einer globalen Risikostreuung von Hypotheken durch Verbriefungen (ABS und CDO). Eine inzwischen restriktiv gewordene Geldpolitik und der zinsbedingte Anstieg der Hypothekenkosten lösten dann im Jahre 2005 eine verheerende Kettenreaktion aus. Viele Schuldner konnten ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Nicht nur Hausbesitzer waren ruiniert, auch die Gläubiger, die diese verbrieften Schuldverschreibungen auf Hypotheken – in Wirklichkeit Schrottpapiere – gekauft hatten.

Die Krise begann. Banken wie Lehman Brothers oder Hypo Real Estate gingen pleite. Die Geld­institute trauten einander nicht mehr. Der Interbankenmarkt trocknete aus. Der Börsencrash im Oktober 2008 löste nach der Lehman-Pleite einen weiteren Vertrauensverlust aus, der das gesamte Wirtschaftsleben erschütterte. Die Umsätze brachen ein, auch die Autoverkäufe sanken drastisch; sogar General Motors wurde insolvent. Keiner hatte es für möglich gehalten, daß es nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 einmal zu einer zweiten großen Krise kommen könnte.

In der Eurozone standen seit dem Jahr 2010 ganze Staaten am Abgrund und mußten finanziell saniert werden. Zypern, Portugal, Spanien (teilweise), Irland und Griechenland schlüpften unter die in der Europäischen Währungsunion aufgespannten Rettungsschirme. Griechenland hat bis zum Ende des Rettungsprogramms im August 2018 drei Finanzpakete mit insgesamt 263 Milliarden Euro erhalten. Es hilft aber keinem Schuldner, wenn man ihm Geld für seine Gläubiger gibt. Dadurch steigt nur die nationale Verschuldung gegenüber souveränen Schuldnern – also gegenüber den Gläubigern der Eurozone.

Die Finanzkrise offenbarte die Konstruktionsfehler des Euros. Im Fahrwasser solider Staaten konnten hochverschuldete Länder zunächst ihre Zinsaufwendungen senken. In einigen Eurozonen-Ländern war der Realzins wegen der höheren Inflationsrate sogar negativ (2002–2007). Der resultierende Kreditboom ließ die Verschuldung explodieren. Die Schulden überstiegen bald die Leistungsfähigkeit dieser Staaten. Als die Banken im Zuge der Finanzkrise aber höhere Zinsen verlangten, konnten einige das nicht leisten. Damit brach die zuvor schwelende Eurokrise voll aus. Doch wurde kein Euroland geordnet in die Insolvenz geschickt, obwohl Staatspleiten über alle Jahrhunderte hinweg üblich gewesen waren.

Im Zuge der zweiten Weltwirtschaftskrise wurde die Geldpolitik zur Finanzierung von Staatsdefiziten herangezogen. Zinsen wurden wie noch nie gesenkt. In der Eurozone gibt es bis heute die niedrigsten Zinsen seit Menschengedenken. Es wurde gerettet, was das Zeug hält. Politiker riefen einen staatlichen Hedgefonds, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (EMS), ins Leben. Er hält die Zombie-Staaten der Eurozone über Wasser und soll zehn Jahre nach der Krise zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden. Einzelne Banken vergeben mittlerweile Kredite zu negativen Nominalzinsen: Bei einer Kreditaufnahme wird ein Zuschuß gewährt, anstatt ein Ausfallrisiko einzupreisen. Begeistert von diesen Eskapaden, wollen Politiker, aber auch Wirtschaftswissenschaftler die Lehrbücher umschreiben.

Die Politik verzerrte die Risiken, anstatt sie zu beseitigen. Sie liegen pointiert im Target-II-­System. Die Target-Salden messen Defizite, die aus dem Umstand resultieren, daß beispielsweise Leistungsbilanzdefizite nicht mehr mit privaten Kapitalimporten, sondern mit Krediten der eigenen Notenbank finanziert werden. Diese zwangen andere Notenbanken, die Kreditierung als Forderungen gegen das System der Europäischen Zentralbanken zu akzeptieren. Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat diese Zusammenhänge aufgezeigt, ohne daß die Politik die Gefahr verstanden und darauf reagiert hätte. Wahrscheinlicher ist sogar, daß sie es nicht begreifen will, weil ihr dann das Verschweigen der Wahrheit schwerer fiele.

Die negativen Salden im Target-II-System müssen zum Hauptrefinanzierungssatz der EZB verzinst werden. Aktuell liegt der bei Null. Doch wie lange noch? Die Verzinsung lag schon einmal bei fünf Prozent, und die Target-Verbindlichkeiten Italiens beliefen sich im Juli 2018 auf 481 Milliarden Euro – Tendenz: weiter steigend. Vorschläge aus Italien, wie die direkte Verschuldung bei den nationalen Zentralbanken oder Schuldenschnitte, sind die Konsequenz einer abenteuerlustigen, in Wirklichkeit verantwortungslosen Phantasie-Politik. Italien ist überschuldet, und die faulen Kredite in den Bilanzen italienischer Banken sind keineswegs abgebaut.

Dennoch rentieren zehnjährige italienische Staatsanleihen nahe am Niveau von US-Staatsanleihen. Auch Deutschland wiegt sich in falscher Sicherheit. Die „Schwarze Null“ vom ehemaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist ein Bilanzschwindel, denn die Rettungskredite an Griechenland müßten eigentlich abgeschrieben werden. Mit Laufzeitverlängerungen sowie Stundung von Zinsen und Tilgungszahlungen wurde das Trugbild erfolgreicher Rettungspolitik aufrechterhalten. Deutschland hat inzwischen seine Stabilitätskultur aufgegeben. Die Sparer hierzulande werden von der EZB mit ihrer Nullzinspolitik enteignet. Die Gesamtrendite der Sparer war so im August 2018 nach Abzug der Inflation auf minus 0,8 Prozent gefallen. Gleichzeitig füllt die Zinsersparnis die Kassen des Staates. Eine massive Umverteilung vernichtet Vermögen und verleitet gleichzeitig zum leichtfertigen Geldausgeben.

Zwei Rechtsbrüche markieren, wie es in der europäischen Politik zu diesem Währungssozialismus kam. Erstens fegte der Europäische Rat die No-Bailout-Klausel des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (Artikel 125) vom Tisch, indem Rettungskredite an notleidende Staaten gewährt wurden. Zweitens betreibt die EZB mit ihrem Anleihekaufprogramm verbotene Staatsfinanzierung. Sie kauft zwar auf dem Sekundärmarkt, was aber unmittelbar Einfluß auf den Primärmarkt hat. Banken wissen, daß sie die Papiere einfach weiterreichen können. Die Kreditausfallversicherungen der Staatsanleihen preisen signifikant ein anderes Risiko ein, als es der Markt über Zinsen macht. Kurz: Ohne diese Intervention würde niemand bestimmte Staatsanleihen kaufen. Die EZB ist der eigentliche Käufer. Sie hat sich von der Politik zur Euro-Rettung einspannen lassen. Sie ist die entscheidende Erfüllungsgehilfin. Dubiose ELA-Kredite – Kredite für aktuelle, aber vor­übergehende Liquiditätsengpässe –, das geheime Anfa-Abkommen – nationalen Zentralbanken wird erlaubt, auch Anleihen des eigenen Staates aufzukaufen –, aber auch die offiziellen Anleihekaufprogramme wurden an den Parlamenten vorbei eingeführt. Frisches Geld ermöglicht Privaten und dem Staat, Zahlungsausfälle über einige Zeit zu überbrücken. Die Bedingungen zur Finanzierung sind als Konsequenz der Krise einzigartig lax geworden. Noch nie aber ist ein Solvenzproblem dadurch gelöst worden, daß die Schulden erhöht wurden. Das sagte Alfred Herrhausen, der sich als Banker intensiv mit der internationalen Schuldenkrise von 1982 beschäftigt hatte. Es ist wie vor der Krise.

Daß die Eurozone noch mitten in der Krise steckt, können wir daran erkennen, daß sich Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht traut, den Präsidenten der Bundesbank, Jens Weidmann, als EZB-Präsidenten vorzuschlagen. Wenn sie hinter ihm stünde, würde kein EU-Mitglied erfolgreich dagegen votieren. Sie will ihn aber nicht, weil er die deutsche Stabilitätskultur verkörpert und sich nicht vor den politischen Karren spannen läßt. Dann aber würden die Märkte wieder wahrnehmen, daß die Mitgliedstaaten in der Eurozone eine unterschiedliche Bonität aufweisen. Kapitalanleger würden ihre Depots umschichten und als Konsequenz würden sich die Zinsen für nationale Staatsanleihen auseinanderentwickeln. Sich ausweitende Zinsspreads signalisierten, daß die Währungsunion nach wie vor auf wackeligen Füßen steht. EZB-Präsident Mario Draghi kaufte seit März 2015 den Regierungen der Eurozone zwar Zeit, indem er den Erwerb von Staatsanleihen finanzierte, doch schwächte das den Anreiz, über Strukturreformen zu soliden Finanzen zu kommen. Die Finanzprobleme in der Eurozone sind weiter ungelöst. Das Programm der Staatsanleihenkäufe läuft Dezember 2018 aus. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Die EZB legt die aus Tilgungen frei werdenden Mittel wieder in Staatsanleihen an.






Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Ökonom und Abgeordneter des Europäischen Parlaments.