© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

„Die Deutschen investieren falsch“
Interview: Der Wirtschaftswissenschaftler Max Otte sieht Anzeichen für einen neuen Crash der Finanzmärkte. Mathias Pellack hat mit ihm über Ordnungs­politik und seine Erwartungen der Marktentwicklung gesprochen.
Mathias Pellack

Sehr geehrter Herr Professor Otte, vor der Finanzkrise 2008 lagen Sie goldrichtig mit ihrer Warnung vor einem Wirtschafts-Crash. Nun erwarten Sie einen Zusammenbruch bis 2020. Was macht Sie da so sicher?

Otte: Ein Rest Unsicherheit bleibt, auch für mich als Investor. Der große Ökonom und Mathematiker John Maynard Keynes sagte einmal: „Markets can stay irrational much longer than investors can stay solvent.“ (Anm. d. R.: Märkte können länger irrational bleiben als Investoren zahlungskräftig.) Die Märkte sind unberechenbar. Aber die Anzeichen mehren sich. Genauso war es 2005, als ich mich entschloß, „Der Crash kommt“ zu schreiben.

Welche Hinweise auf einen drohenden Zusammenbruch der Börsen gibt es dieses Mal?

Otte: Im Januar dieses Jahres habe ich bei einem Vortrag auf dem Fondskongreß in Mannheim meine Warnung erstmals ausgesprochen. Es gibt aus meiner Sicht sehr viele Anzeichen. Sechs davon will ich Ihnen nennen:

Erstens: Der Bullenmarkt in den USA ist mittlerweile der längste und auch stärkste seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Reformen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika Donald Trump bestanden leider aus dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Republikaner untereinander einigen konnten:  Das sind Steuersenkung und Deregulierung. So wurde  ein Strohfeuer entfacht und die US-Börsen auf neue Höchststände getrieben.

Dann ist zweitens die Verschuldung auf der Welt seit der Finanzkrise weiter angestiegen. Absolut um mehr als ein Welt-Bruttosozialprodukt, relativ von 280 auf 330 Prozent der Weltwirtschafts­leistung. Wir haben also keinesfalls Verschuldung abgebaut.

Beim Thema Schulden müssen wir auch über die gigantischen Target-II-Salden reden, die Deutschland als Kredit gewährt.

Otte: Richtig. Das ist Drittens: Die Spannungen im Euro­system. Sie sind notdürftig durch eine zwangswirtschaftliche Politik der Staaten und der Notenbanken zugedeckt worden. Die Target-II-Salden, die nach Mario ­Draghis „Whatever it takes“-Rede vor einigen Jahren fielen, stehen auf einem neuen Rekordhoch. Der Süden ist mit über einer Billion Euro über die EZB beim Norden verschuldet. Die notleidenden Kredite der italie­nischen Banken übersteigen ihr Eigenkapital.

Viertens: Viele aufstrebenden Märkte sind in der Krise, unter anderem weil sie sich in Dollar verschuldet haben und die Zinsen in den USA langsam zu steigen beginnen. Fremdwährungsschulden von mehr als 40 Prozent des BIP sind da eine kritische Größe, und die haben viele Staaten überschritten.

Wozu führen die hohen Auslandsschulden in den Kreditnehmerländern?

Otte: Nun fließen die Mittel ab, und diese Länder geraten – wieder einmal – in Bedrängnis. Darunter sind Venezuela, Argentinien, die Türkei, Indien und andere. Ich hatte mir im Januar die Türkei herausgegriffen: Da geht das Wirtschaftswachstum zurück, die Währung stürzt ab und die Zinsen steigen – ein tödlicher Mix.

Des weiteren – also fünftens – belasten Trumps Handelskrieg mit China und Amerikas Sanktionen gegen alle und jeden, der sich der USA in den Weg stellt, die Weltwirtschaft. Zudem pfeift die Realwirtschaft bereits jetzt auf dem letzten Loch.

Und sechstens: In New York beginnen die Häuserpreise zu fallen. Das könnte der letzte Tropfen sein. Als Investor und Fondsberater weiß ich aber: Setze nie alles auf ein Szenario, sondern spiele verschiedene Szenarien durch und versuche, eine Investmentstrategie zu finden, die in verschiedenen Fällen robust ist.

Das ist sicherlich ein guter Rat. Um die Krise abzuwenden, ruft man gern mal nach dem Staat. Kann er hier regulierend eingreifen und den Crash verhindern, oder reguliert er schon zuviel?

Otte: Finanzmärkte sind, wie anfangs bemerkt, irrational und hoch beweglich. Daß sie oft einem Schema von Dummheit, Gier und Furcht folgen, hat die moderne verhaltenswissenschaftliche Finanzforschung immer wieder gezeigt. Sie können sich das wie einen Tanker vorstellen, der nur halb betankt ist und in dessen Innenraum es keine Trennwände gibt. Wenn dieser Tanker in schwere See gerät, schwappt die Flüssigkeit hin und her. Wir müssen Finanzmärkte so ordnen, daß sie der Realwirtschaft dienen.  Wir müssen also Trennwände einziehen. Das Wort „Regulierung“, das aus dem angelsächsischen Sprachraum kommt und einem angelsächsischen Politikverständnis entspricht, ist mir da viel zu weich. Es impliziert, daß die Finanzmärkte im großen und ganzen funktionieren und daß nur etwas nachgesteuert werden muß. Der deutsche Begriff dafür ist „Ordnungspolitik“. Finanzmärkte müssen gesetzlich geregelt, quasi erst geschaffen werden. Da sie ein rein geistiges Konstrukt sind, sind sie letztlich das, was wir beziehungsweise der Gesetzgeber daraus machen. Es ist paradox. Einerseits reguliert der Staat viel zuviel, andererseits viel zuwenig.

Ich zitiere hier aus dem von mir geschätzten Blog Zerohedge: Die neoliberale Ideologie verkündete, daß viele davon profitieren würden, wenn die Gesetzgebung zur Wirtschaft verschlankt werde, und da, wo es richtig gemacht wurde, hat es auch funktioniert. Aber die korrupte Form der Governance, die die Weltwirtschaft dominiert, will, daß Gesetze und Vorschriften Kartelle und Insider vor dem Wettbewerb schützen. Schon der frühere Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Simon Johnson, sprach davon, daß die Finanzbranche die Gesetzgebung gekapert habe. Das hat man „Regulatory Capture“ genannt.  Die Insider haben das System so manipuliert, daß sie Wettbewerber bestrafen und ihre Kumpane schützen können. Die hilfreichen Gesetze und Verordnungen, die die vielen vor der Ausbeutung durch die wenigen schützen sollen, werden von den kontraproduktiven Gesetzen und Verordnungen begraben, die nur gemacht wurden, um „etwas zu tun“. Dabei werden die regulatorischen Burggräben zugeschüttet, Kartelle und Insider beschützt.

Die Politik sollte ihrer Meinung nach also Ordnung schaffen.

Otte: Genau. Bisher wird das Leben für Mittelständler und Kleinere zumindest schwer, manchmal sogar unerträglich gemacht, während Großkonzerne und große Vermögen auch in dieser Welt zurechtkommen. Ich kenne sehr viele Beispiele aus der Praxis. Eines will ich Ihnen nennen. Banken müssen nun bei einem Immobilienkredit nicht mehr nur den Wert des Objekts und das Eigenkapital prüfen, sondern auch, ob der Kreditnehmer das während seiner Lebenszeit zurückzahlen kann. Eine 76jährige Mutter, eine Beamtenwitwe, hat so keinen Renovierungskredit für wenige 10.000 Euro erhalten. Das ist die Konsequenz der neoliberalen Ideologie der Deregulierung, die nur für die Reichen und ihre Funktionäre in Politik und Management gut ist. Eine gute Ordnungspolitik würde sich auf wenige Prinzipien zurückziehen, dieser aber streng durchsetzen. Wichtig wäre, denke ich, ausreichendes Eigenkapital für alle Finanzmarktakteure.

Was wir aber haben sind Basel II und III. Umfangreiche EU-Finanzmarktregulierungen auf mindestens 650 Seiten.

Otte: Ja. Die Regeln von Basel III sind hoch komplex und laden zu Interpretationen und Umgehung ein. Sieben bis acht Prozent Eigenkapital für alle Finanzmarktakteure wäre gut. Statt dessen haben etliche Banken zwei oder drei Prozent, oder sind technisch gesehen sogar insolvent. Finanzprodukte sollten von einer Zulassungsbehörde geprüft und nur wenige Produkte für Privatanleger zugelassen werden. Der jetzige Weg, fast alles zuzulassen, dafür aber auf ellenlange Verbraucher­aufklärungen zu setzen, belastet bürokratisch und kann nur in die Irre führen. Dann muß man Steueroasen und Schlupflöcher schließen. Irland zum Beispiel gehörte durch die EU sanktioniert. Auch eine Finanztransaktionssteuer wäre sehr hilfreich, Waffenparität zwischen der Realwirtschaft und dem Finanzsektor herzustellen.

Eine Finanztransaktionssteuer würde hochspekulative Investoren ausbremsen?

Otte: Ja, aber solide Investments wären kaum beeinträchtigt. Meine gesammelten Gedanken dazu finden Sie ab November in meinem neuen Buch, „Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbestimmung Europas – Gedanken zu Finanzkrisen, Marktwirtschaft und Unternehmertum“.

Welche soliden und nachhaltigen Vorsorgemöglichkeiten gibt es Ihrer Meinung nach?

Otte: Klar ist, wie Daniel Stelter in seinem kürzlich erschienenen Buch „Das Märchen vom reichen Land“ schreibt, daß die Deutschen falsch investieren. Sie legen einen Großteil des Ersparten in Geldforderungen an, also in Kontoguthaben, Anleihen, Lebensversicherungen und – zwangsweise – in Pensionsansprüchen und Auslandsforderungen der Bundesbank. Mit Geldvermögen ist man Gläubiger. Hierzu hat Stelter treffend bemerkt: „In einer überschuldeten Welt ist es keine gute Idee, zu den Gläubigern zu gehören.“

Die Deutschen gaben 2017 etwa 2,5 Milliarden Euro für Oldtimer aus. Sind Sachwerte nicht krisenfest? Zur Not kann man sie nutzen.

Otte: Die Oldtimer-Manie hat das Blasenstadium erreicht. Mittlerweile dürfte es dafür etwas spät sein. Auch bei Kunstwerken gibt es lange Zyklen – viele sind billiger zu haben als noch vor einigen Jahren. Immobilien sind ebenfalls teuer und nur sehr selektiv zu empfehlen.

Viele Menschen vergessen, daß auch Aktien Sachwerte sind, denn es sind Besitzurkunden an einem Unternehmen. Wenn man sich, wie Warren Buffett, an Apple beteiligt, dann ist man an der Finanz- und Ertragskraft dieses Unternehmens beteiligt. Viele große Unternehmen gibt es seit 100 Jahren und mehr, wie etwa Nestlé. Das sind weitgehend sichere und inflationsgeschützte Investments. Und Dividenden gibt es auch noch – bei Nestlé über drei Prozent pro Jahr.

Wenn ein Crash kommt, sind oftmals Aktien und Anleihen zuerst betroffen. Gibt es Börsenanlagen, bei denen Sie kaum Risiken erwarten?

Otte: Es gibt keine risikolosen Geldanlagen. Wir Deutschen hatten ein im großen und ganzen sehr gut funktionierendes Alterssicherungssystem. Wir haben uns daher wenig mit Geldanlage befaßt und neben dem Eigenheim und dem Sparkonto kaum etwas gehabt. Heute sind, wie gesagt, Kontoguthaben und Rentenansprüche stark bedroht. Wenn Sie krisensichere Aktien oder einen entsprechenden Fonds haben, dann kann der natürlich in der Krise auch einbrechen. Aber er erholt sich wieder. So war es auch nach den beiden Weltkriegen: Kontoguthaben und Anleihen waren weitgehend futsch, die Aktienportfolios waren noch da. Johannes Metzler vom Bankhaus Metzler pflegt zu sagen, daß sein Bankhaus nur aufgrund des Aktienportfolios nach dem Krieg weitermachen konnte. Am besten Sie wählen zwei bis drei vermögensverwaltende Mischfonds aus, die von Managern geleitet werden, denen Sie vertrauen.

Bleibt Gold eine stabile Anlage?

Otte: Das Edelmetall ist die Anlageform, die greift, wenn alle anderen Anlagen Probleme bereiten. Ich betrachte es als eine Krisenversicherung. Die Versicherung kostet Geld und bringt keine Rendite, aber im Ernstfall ist man froh, daß man sie hat. Ich kenne keinen einzigen Investor, der es bereut hat, Gold zu kaufen – selbst wenn sein Bestand im Preis gefallen ist.

Sind andere Rohstoffe auch vertrauenswürdig?

Otte: Ich wäre da vorsichtig, denn die Rohstoffe gibt es nur als Produkte der Finanzbranche. Und daran verdient dann zunächst einmal die Branche. Der Rohstoffzyklus ist ziemlich am Boden. Wenn Sie langfristig partizipieren wollen, kaufen Sie einfach Aktien der großen Öl- und Rohstoffkonzerne. Da wissen Sie, was Sie haben, und werden für das Warten noch mit schönen Dividenden belohnt, bei manchen Ölkonzernen über vier Prozent pro Jahr.

Haben Sie Erfahrungen mit sogenannten Robo-Advisors oder elektronischen Anlageberatern? Eine Maschine kann mehr Daten in eine Anlageempfehlung mit einbeziehen. Sind die damit nicht „automatisch“ besser?

Otte: Robo-Advisors erkennen Muster, wie auch viele quantitative Hedgefonds. Das geht eine Weile gut, bis andere ebenfalls diese Muster erkennen. Immer mehr „spielen“ die Marktanomalie, und dann bricht es zusammen. Das war bei der sogenannten Portfolioversicherung vor dem Crash 1987 so, vor der Finanzkrise und viele andere Male. Der Wall-Street-Insider Richard Bookstaber hat das ganz gut in „Teufelskreis der Finanzmärkte“ herausgearbeitet.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Otte.






Prof. Dr. Max Otte, Jahrgang 1964, ist Gründer des Instituts für Vermögens­entwicklung (IFVE) in Köln sowie Berater des Max-Otte-Vermögens­bildungsfonds.