© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

Putzen als Dienst an den Ahnen
Niederlagen akzeptieren und im Land bleiben: In „Die andere Seite von allem“ porträtiert die serbische Filmemacherin Mila Turajlic ihre Mutter
Sebastian Hennig

Gemessen an unserer geographischen Nähe zu den osteuropäischen Ländern lassen wir uns die dortigen Verhältnisse und deren Vorgeschichte sehr wenig nahegehen. Vorzugsweise wenden wir uns den Übernächsten zu statt den Nächsten. Dokumentationen über Afrika, Asien und Amerika sind präsenter als solche über die Balkanhalbinsel. Um so aufmerksamer stimmt ein Beitrag der serbischen Filmemacherin Mila Turajlic. In ihrem Dokumentarfilm „Die andere Seite von allem“ befragt sie die eigene Mutter. Die Mathematikprofessorin Srbijanka Turajlic war eine der Protagonistinnen der Bewegung „Otpor!“, die am 5. Oktober 2000 den Sturz von Miloševic bewirkte.

Das Porträt wird dem ausgleichenden Titel gerecht. Wir bekommen keine wohlfeile Heldengeschichte im Kampf für die Demokratie aufgetischt. Srbijanka Turajlic selbst bezeichnet die Revolution während einer Preisverleihung als ein Fiasko und meint: „Wenn ich tatsächlich eine Freiheitskämpferin bin, ist die Freiheit, die ich gewonnen habe, gleichzeitig das größte Scheitern meines Lebens.“

Bedeutungsvoller als das „Otpor!“-Signet der erhobenen Faust sind die Messingbeschläge in der großbürgerlichen Wohnung der Familie auf der ulica Bircaninova. Großvater Dušan Peleš hat das Haus in den zwanziger Jahren bauen lassen. Der Anwalt amtierte 1920 als Justizminister des Königreichs Jugoslawien. Doch das wird dem Zuschauer erst nach und nach mitgeteilt. Fakten führen zumeist den in die Irre, der nicht die gleiche Lebenssphäre teilt.

Der Film transportiert vor allem Stimmungen. Dabei bleibt die Bildsprache materialistisch konkret und wird schon darum nicht sentimental oder pathetisch, weil die Mathematikerin Turajlic sich stets nüchtern äußert. Die über Jahrzehnte unverändert gebliebene Wohnungseinrichtung vergegenwärtigt die Vergangenheit. Das entspricht dem tatsächlichen Zustand des Landes besser als die Aufzählung vermeintlich nackter Tatsachen. Die Wohnung ist die Angel, an der der Umschlag vom Früher ins Heute aufgehängt ist.

Die Wohnung wird vom Regime aufgeteilt

Nach 1945 wird die Familie in einige wenige Zimmer ihrer eigenen Wohnung gepfercht. Eine Polizistin zieht die Schiebetür des Salons zu: Sie wohnen nun da. Wegen der Erkrankung einer Tante kann die vielköpfige Familie auf Antrag noch ein Zimmer zurückgewinnen. In die restlichen werden Familien einquartiert. Hinter dem Sofa auf der anderen Seite der verschlossenen Zimmertüre wohnt immer noch eine bettlägerige Neunzigjährige.

Zu Beginn des Films liegen Herbstnebel über der Stadt. Die Siebzigjährige Srbijanka Turajlic putzt die Türklinken und Beschläge aus Messing. Es ist ein Dienst an den Ahnen, deren Gestaltungsabsichten immer noch dem Alltag der Nachkommen Form geben. „Wir sind das besiegte Bürgertum, das die Niederlage akzeptiert hat“, erwidert sie weise auf die Frage der Tochter nach der Zugehörigkeit. Ein Lächeln zaubert manchmal einen milderen Zug in ihr Gesicht, hervorgerufen vom Gegenüber der Tochter Mila. 

Als sie Jura studieren will, um Anwältin zu werden, gibt ihr der Vater zu bedenken, daß dies kein freies Land sei. Sie würde in diesem Beruf gewiß irgendwann ihre Arbeit verlieren. Die Mathematik bewahrt sie nicht davor, 1999 von der Universität Belgrad entfernt zu werden. Mit Bitterkeit weiß sie davon zu erzählen, wie schnell sie durch den Einsatz der Kollegen entbehrlich wurde. Dieses Leben ist an Enttäuschungen reich.

Etwas später wird bei der Erstürmung des Parlaments dessen Mobiliar geraubt. Der Kameramann zeigt, wie Passanten die Plünderer schelten. Der Jubel der Straßen ist kaum verstummt, als die Professorin am Morgen danach der Frage nach ihrem Gefühl mit dem Dichterwort entgegnet: „Wird die Freiheit so schön klingen, wie die Unterdrückten von ihr singen?“ Als Bildungsministerin wirkt sie mit an den Reformversuchen „wohlmeinender Amateure“, wie sie sagt.

Die dokumentarischen Aufnahmen von den kommunistischen Parteikonferenzen, Belgrader Studentenunruhen von 1968, rollenden Panzern und der Erstürmung des Parlaments 2000 werden immer zurückgebunden durch die Ansicht vom Haus und seiner Umgebung zu verschiedenen Jahreszeiten. Der Eindruck wechselt zwischen Refugium, Treffpunkt und Gefängnis. Nach der Präsidentschaftswahl 2017 wird es zur belagerten Burg. Turajlic steht auf einer Liste von dreißig „Serbenhassern“. Die Schwierigkeit, oppositionell zu wirken, ohne ungewollt Agent landfremder Mächte zu werden, deutet sie in ihrer Resignation über das kleine Land an, dessen Grenzen bislang stets von fremden Kongressen festgelegt wurden.

„Die andere Seite von allem“ bleibt einerseits konkret anschaulich und greift andererseits weit in die Vergangenheit zurück. Dazwischen ereignen sich die bestürzenden Ereignisse von Krieg und gescheiterter Revolution. Erst am Ende des Films, nachdem die letzte Bewohnerin der abgeteilten Zimmer gestorben ist, wird die verstellte Tür wieder geöffnet. Von der Decke der schäbig eingerichteten Zimmer hängen noch die originalen Leuchter. Nach Jahrzehnten kann sie zum erstenmal einen Rundgang durch die gesamte Wohnung unternehmen.

Kinostart am 15. November 2018

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