© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

Die Wirklichkeit hervorlocken
Ein Klassiker des Eigensinns: Vor fünfzig Jahren starb der Schriftsteller und Naturlyriker Wilhelm Lehmann
Dirk Glaser

Hätten sich die Verhältnisse nach mir gerichtet, wäre ich Naturforscher geworden.“ Ein Bekenntnis, das der in der Eckernförder Provinz tätige Studienrat Wilhelm Lehmann 1932 ausgerechnet in der Literarischen Welt veröffentlichte, dem viel geschmähten Zentralorgan großstädtischen „Asphaltliteratentums“.

Zum Naturforscher reichte es nicht, nicht einmal zum Biologielehrer, dafür aber zu einem von Literaturhistorikern notorisch als „Naturlyriker“ klassifizierten Dichter, der während der Adenauer-Zeit dem von allzuviel Geschichte ermatteten westdeutschen Bildungsbürgertum seelentröstende Ausfluchten ins zeitlos Grüne eröffnete. Der Katarakt der zahlreichen Literaturpreise, der nach 1949 auf den pensionierten, zum 75. Geburtstag 1957 mit dem Großen Verdienstkreuz  des Verdienstordens der Bundesrepublik geehrten Lehrer niederging, scheint tatsächlich das Klischee vom konservativen Dichterrepräsentanten der Bonner „Restauration“ zu bestätigen. Das auch insoweit stimmig wirkt, wie das Vergessen im Zeichen der Studentenunruhen schon eingesetzt hatte, als Lehmann am 17. November 1968 in Eckernförde starb.

Daß dieser „Klassiker des Eigensinns“ (Stephan Wackwitz) heute jedoch wieder öffentlich präsent ist, verdankt er dem Wandel des Zeitgeistes. Natur gilt seit der Entdeckung der globalen „Grenzen des Wachstums“ und dem Aufkommen der Umweltbewegungen nicht länger als politikferner Fluchtraum, sondern als Arena härtester ökonomischer Verteilungskämpfe um schrumpfende Ressourcen. Deswegen sind Pioniere des „natural writing“ wie der US-Amerikaner David Thoreau genauso wieder in Mode gekommen wie dessen deutsche Protagonisten, unter denen Lehmann mit seinem lyrischen Werk und dem jetzt bei Matthes & Seitz abermals aufgelegten „Bukolischen Tagebuch“ (1927–1932) zu den prominentesten zählt. Eine Resonanz, die trotz günstiger Zeitkonstellationen nicht erzielt worden wäre ohne den unermüdlichen Einsatz einer bemerkenswerten Bürgerinitiative, der 2005 in Eckernförde gegründeten Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft, die anläßlich des 50. Todestags an diesem Wochenende selbstverständlich zu einer hochkarätig besetzten Jubiläumsveranstaltung ins Eckernförder Rathaus einlädt, wo seit Ende Oktober auch die Ausstellung „Der Wanderer und der Weg. Wilhelm Lehmann 1882–1968“ zu sehen ist.

Dabei steckt die Wiederaneignung dieses Außenseiters und von Armin Mohler nicht zufällig bewunderten prototypischen „Waldgängers“ erst in den Anfängen. Vor allem das umfangreiche  Tagebuch-Œuvre, aus dem sich für die „Stalingrad“-Wochen 1943 gerade einmal Walter Kempowskis „Echolot“ bedient hat, harrt einer Edition. Sie dürfte das immer noch von uralten linken Verdikten entstellte Bild vom apolitischen, eskapistischen und „kulturkonservativen“ Autor weiter gründlich revidieren.

Vergleiche mit Gottfried Benn

Verdikte, die bei Lehmann Natur und Provinz mit Beschwörungen heiler Welt assoziieren. Beliebt waren bei solchen Etikettierungen Vergleiche mit dem zu Lehmanns Antipoden aufgebauten Gottfried Benn (1886–1956). Doch der auf dem gleichen wilhelminischen Kulturboden gewachsene „Nihilist“ sah das anders. „Wir gelten ja in bezug auf Lyrik immer als Antipoden“, schrieb Benn 1952, nach der persönlichen Begegnung auf einem Europäischen Dichtertreffen. Aber man habe doch viele Gemeinsamkeiten, „nämlich den unbeirrbaren Ernst in bezug auf die Dinge der Literatur, die tiefe Strenge in bezug auf Qualität und Leistung. Sehr schattenreich in uns beiden alles.“

Schattenreich, weil auch Lehmann Benns Gegenglück gewählt hatte, den Geist. Das Leiden an der modernen Welt, das Mißtrauen gegen den Fortschrittsoptimismus und die materialistische Homo-Faber-Mentalität teilten die beiden frühen Nietzsche-Leser, ebenso die pessimistische Grundstimmung und den Glauben, nur in der Kunst lasse sich die vom Leben nie zu trennende Existenzangst aushalten. Literarische Kunst, die bei dem promovierten Philologen Lehmann stärker noch als bei dem Mediziner Benn in der Auseinandersetzung der europäischen Überlieferung entstand. In den so abschreckend hermetisch wirkenden, mit botanischen und ornithologischen Namen gespickten Naturgedichten ist dieses archetypische Erbe eingegangen. Sie antworten, zunächst im Bann Oscar Wildes und der Auflehnung gegen viktorianisch-puritanische Bürgermoral, die den Anglisten Lehmann nachhaltig beeinflußte, auf Zumutungen modernen Daseins. Kein Wunder, daß die autobiographisch getönten Helden des Erzählers Lehmann „Menschen in der Revolte“ sind, die zeitkonform an der Wirklichkeit zerbrechen.

Eine ihm selbst angemessene, das Individuum „rettende“ künstlerische Bewältigung solcher Urängste gelang Lehmann spät, mit der endgültigen Abwendung von der Prosa. Während rauschhafter Ferienwochen auf der Halbinsel Schwansen, dort wo heute die Maschinerie der „Machenschaften“ (Martin Heidegger) auch diesen Naturraum erreicht hat. Wo die Betonklötze des Ostseebades Damp und bald wohl die Windturbinen der grünen Energiewende grüßen, erfolgte 1928 die Sturzgeburt des Lyrikers Wilhelm Lehmann, des Sprachmagiers, der die Wirklichkeit hinter den Dingen hervorlockt.

Anläßlich des 50. Todestages des Dichters Wilhelm Lehmann zeigt das Museum Eckernförde, Rathausmarkt 8, bis zum 6. Januar 2019  eine Sonderausstellung zu Leben, Werk und Wirkung des Autors unter dem Titel “Der Wanderer und der Weg”. Öffnungszeiten: täglich außer montags von 14.30 bis 17 Uhr, Sa./So. ab 11 Uhr. Telefon: 0 43 51 / 71 25 47

 www.museum-eckernfoerde.de

 www.wilhelm-lehmann-gesellschaft-eckernfoerde.de