© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

Eliten und Elitenverachtung
Im Kosmos des Echos
Marco F. Gallina

Wenn heute der Begriff der Elite fällt, dann paßt er nur noch im machiavellischen Sinne: Elite ist nicht gleichzusetzen mit Experten oder Politikern per se, sondern mit der tonangebenden Schicht. Andrea Nahles ist mit Sicherheit weder intellektuell noch politisch dem klassischen Elitebegriff zuzuordnen; sie ist aber de facto Teil der deutschen Elite, weil sie bei der Bestimmung der Geschicke dieses Landes eine maßgebliche Rolle spielt. Die Crux, die bereits Machiavelli feststellte: Wir werden nicht von den Besten regiert, sondern von jenen, die am besten vernetzt sind und sich am skrupellosesten nach oben gearbeitet haben. Machiavelli sieht bereits die Eliten seiner Zeit negativ: Patrizier, die sich untereinander absprechen, untereinander wählen, aber ohne Bezug zur individuellen Leistung einer Person. Der Elitenbegriff hat vor machiavellischem Hintergrund eine ironische, ins Zynische reichende Bedeutung.

Der heutige Begriff der Elite widerspricht damit seiner eigentlichen Bedeutung. Elite bedeutet Auslese, heißt Auslese der Besten. Das Wort „Leistungselite“ ist im Grunde ein Pleonasmus. Für ein politisches System, das tatsächliche Eliten regieren würden, wäre vermutlich der Begriff der Meritokratie (Vorherrschaft des Verdienstadels) immer noch der treffendste; auch jener der Aristokratie böte sich an. Hier hat sich aber bereits aufgrund der langjährigen Verquickung mit der Adelsherrschaft ein ähnliches Phänomen entwickelt wie bei der Elite. Die eigentliche Wortbedeutung – Herrschaft der Besten – ist verlorengegangen. Statt dessen drängt sich das Bild von Adelscliquen vor Augen, die sich wie in Machiavellis florentinischer Republik die Ämter zuschanzen und ihren eigenen Interessen nachgehen, statt dem Wohl des Staates zu dienen. Die Verwechslungsgefahr mit der Oligarchie – der Herrschaft der Wenigen – ist mittlerweile hoch.

Bezeichnenderweise verwenden die Medien die völlig ironiefreie Bedeutung des Elitenbegriffs. Großunternehmer, wissenschaftliche Experten, ehemalige und aktuelle Funktionsträger, Chefredakteure und viele mehr gehören gemäß medialem und politischem Konsens dieser „ideal“ geglaubten Elite an. Vielleicht nicht zuletzt deswegen, weil die Medienhäuser mittlerweile eine Symbiose mit dem Parteienstaat eingegangen sind und sehr wohl darum wissen, daß sie nicht nur über die Elite berichten, sondern auch ein Teil dieser sind. Das führt zwangsläufig zu einem Paradoxon: die Zeitungen (und heute: ihre Internetportale), die ursprünglich sich selbst als jene Instanzen inszenierten, welche „den Mächtigen“ auf die Finger schauten und diese im Zweifelsfall auch schlugen, sind selbst Teil eines Kartells geworden.

Daß jemand nicht Kontrolleur und Kontrollierter, nicht Regierung und Opposition, nicht Leitkultur und Subkultur, nicht Vorzeigebürger und Rebell, nicht Elite und Volk zugleich sein kann, ist das gegenwärtige Identitätsproblem derjenigen, die in den 1970ern linksalternativ waren, mittlerweile aber im Grunde als Vertreter der Eliten strukturkonservativ geworden sind – weil sie die Welt „konservieren“, die sie selbst geformt haben.

Gestern wie heute wird Elitenverachtung besonders von denen gegeißelt, die entweder selbst dazugehören oder – noch eher – dazugehören wollen, ohne zugleich den Anspruch aufzugeben, als „dritte Partei“ das Thema neutral zu bewerten. 

Nicht die heutigen Reaktionäre, Konservativen, Liberalkonservativen, Libertären, Rechten, Neurechten et alii – hier darf sich alles versammeln, was in Opposition zum heutigen Zeitgeist steht – sind diejenigen, die von dieser Welt nicht lassen können, sondern eben jene, die an dieser „besten Welt“ hängen und dieser ab 1968 ihre Prägung aufdrückten beziehungsweise Kinder dieser Welt sind, weil sie gar keine andere mehr kennen. Es ist eine Welt, die immer weiter zusammenwächst, grenzenloser wird, in der die EU und die UN Schicksal sind, die von einer Verehrung der Andersartigkeit der Andersartigkeit wegen gekennzeichnet ist, kurz: wo das Ende der Geschichte besiegelt ist. Das angesprochene Milieu fühlt sich in dieser Gegenwart selbstzufrieden und wohl. Oder eben im Angesicht der Veränderungen: bedroht, angegriffen, gehaßt.

Deswegen wird von dieser bedrohten Elite das Thema „Elitenverachtung“ großgeschrieben. Natürlich: Insbesondere die AfD hat sich dies auch dezidiert auf die Fahne geschrieben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Noch in ihren Gründungstagen diskreditierten politische wie mediale Gegner die AfD als „Professorenpartei“. Elitenverachtung ist also, anders als oftmals behauptet wird, keine Angelegenheit, die nur eine bestimmte Gruppe betrifft. Vorstellungen wie „Masse gegen Klasse“ oder „Volk gegen die Herrschenden“ waren in den vergangenen beiden Jahrhunderten eher in linken, utopistischen und revolutionären Kreisen beheimatet. Goethe und das intellektuelle Bürgertum der Weimarer Zeit biederten sich dagegen den Franzosen an. Beethoven, der zuerst Napoleon huldigte, schwenkte bereits 1803/1804 um und durchschaute das napoleonisch-imperiale Treiben – es war nicht allen deutschen Eliten vergönnt.

Auch damals regte sich im Volk schon die Verachtung für die Mächtigen und Klugen, die erst nach Napoleons Niederlage in Rußland die Stunde gekommen sahen, sich der antifranzösischen Stimmung im Volk zu bedienen. Wo es einen Goethe gab, gab es auch immer einen Arndt. Ähnlich kämpften die spanischen Partisanen gegen einen bestimmten Teil der Elite (nämlich der franzosenfreundlichen), nicht jedoch gegen jene hochadligen Generäle, die das Wohl Spaniens im Sinn hatten.

Gestern wie heute wird Elitenverachtung besonders von denen gegeißelt, die entweder selbst dazugehören oder – noch eher – dazugehören wollen, ohne zugleich den Anspruch aufzugeben, als „dritte Partei“ das Thema neutral zu bewerten. Eine besondere Pointe erhält dieses Phänomen, wenn die in der Aufklärung verwurzelten Feuilletonisten sich gegen die „Pöbelherrschaft“ und für das Expertentum oder gar die Regierung aussprechen, obwohl ihre eigenen Vorbilder die größten Kritiker des Establishments waren. Die Jubelperser der gelebten Technokratie verkommen zu dem, was andere Zeitgenossen als modernes Hofschranzentum akzentuieren.

Wie wenig unsere gegenwärtige politische und gesellschaftliche Ordnung aber den Vorstellungen entspricht, die woanders behauptet werden, zeigt sich bei einem Blick in die Ausschüsse des Deutschen Bundestages. Anhörungen von Expertengruppen werden so gut wie nie zur Informationsbeschaffung verwertet, sondern dienen selbst dann als Ausweis der eigenen politischen Position. Politiker befragen nahezu ausschließlich die Sachverständigen, die sie als Verbündete ansehen, ähnlich einem Zeugen und Gewährsmann. Fachleute werden also nicht eingeladen, um einen Bestand ausführlich von allen Seiten zu bewerten, wonach die Fraktionen einen auf Expertentum begründeten Kompromiß finden – vielmehr verbleiben sie in der Echokammer der eigenen Meinung und lassen diese von Dritten bestätigen, mal von gesellschaftlichen Vertretern, mal von der Wissenschaft. Statt daß Parteien Ausdruck des Pluralismus sind, formen die Parteien das, was Pluralismus sein darf. Wer sich in diesem Kosmos bewegt – ob als Fachmann, Berater, Journalist oder Politiker –, darf sich zur eigentlichen Elite zählen, die zuletzt bestimmt, was der Konsens dieser Republik ist.

Dazu gehört selbst die Bestimmung, welche Eliten gut oder schlecht sind. Abgesehen von der „Professorenpartei“ mag dem einen oder anderen noch der „Professor aus Heidelberg“ erinnerlich sein – der despektierliche Name, den der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Steuerexperten Paul Kirchhof anklebte. Das Etikett ruinierte Kirchhof und auch den wirtschaftsliberalen Wahlkampf der damaligen CDU. Elitenverachtung – zelebriert von Medien und Regierung, und alle machten mit. 

Im Fall des geschaßten Maaßen wird deutlich, daß weite Teile der politischen Linken immer noch von Elitenverachtung gefangen sind – solange es die eigenen Vertreter nicht betrifft. Es handelt sich dabei allerdings um keinen rein linken Reflex. 

Ähnliches ist in der Causa Hans-Georg Maaßen zu beobachten. Die Verdienste und die sachliche Kompetenz des Verfassungsschutzchefs sind an sich unbestritten. Meinungen und Ratschläge sind weiten Teilen des Establishments aber unwillkommen.

Im „Fall Maaßen“ wird deutlich, daß weite Teile der politischen Linken immer noch von Elitenverachtung gefangen sind – solange es die eigenen Vertreter nicht betrifft. Es handelt sich dabei um keinen rein linken Reflex; schon der „Volkskanzler“ Ludwig Erhard hatte in seiner Regierungserklärung 1963 erst die „schöpferischen Menschen“ in Deutschland zur Mitarbeit ermutigt, nur um wenig später – insbesondere in Hinblick auf die Gruppe 47 – diese als „Pinscher“ zu beschimpfen.

Elitenverachtung ist also relativ. Während die einen Donald Trump als millionenschweren Baulöwen ansehen, der zur amerikanischen Plutokratie gehört, haben dieselben Leute keine Probleme damit, sich mit dem bestvernetzten Kraken des Ostküstenestablishments – Hillary Clinton – zu fraternisieren und sie als fürsorgende Familienmutter zu stilisieren. AfD-Funktionäre verweisen einerseits auf die Rate der Hochschulabsolventen in der Partei, nur um sich dann wieder als Volkstribune zu gerieren, die noch wissen, wie man mit Hammer und Schraubenzieher umgeht. Der ehemaligen Goldman-Sachs-Analystin Alice Weidel wie dem deutschen Blackrock-Aufsichtsrat Friedrich Merz binden sogar Parteifreunde einen Strick – wegen ihrer Vernetzung in elitäre wie finanzmächtige Kreise.

Demnach ist es gar nicht so wichtig zu bewerten, wie mit Elitenverachtung umzugehen ist. Vielmehr zeigt sich, daß diejenige Gruppe den Vorteil hat, die diese Elitenverachtung als größere Problematik verkaufen kann als die mögliche Angst vor einer dem Volk völlig entfremdeten Regierung. Das Mittelalter kennt bereits die Pfaffenschelte, bei Boccaccio werden die homosexuellen Mönche im Kloster samt ihrer Heuchelei literarisch aufgespießt. Beethoven durfte nach dem Konzert in adliger Gesellschaft die Hinrichtung derselben fordern.

Die Kritik ist weder neu noch anrüchig. Die Republik Venedig mit ihrer Aristokratie überlebte auch deswegen Jahrhunderte, weil das Volk diese akzeptierte; nach ihrem Fall setzte von der entmachteten Elite geradezu eine „Demokratieverachtung“ ein, in der einstige Nobili sich über „politische“ Schankfrauen ebenso lustig machten wie über Bäcker, die Finanzminister spielten.

Ob die heutigen Verteidiger der gegenwärtigen Zustände das Etikett der „Demokratieverachter“ annehmen würden – davon ist weniger auszugehen. Vielleicht, weil selbst die venezianischen Nobili sehr genau wußten, daß sie ohne das Volk nicht konnten: Wer sollte sonst das Brot backen, die Gondeln fahren und das Papier fertigen, damit die Nobili ihre Funktionen als Elite erfüllen konnten?

Es ist dieser Konsens, der den Vertretern der heutigen Elite fast völlig abhanden gekommen ist. Das unterscheidet die venezianische Demokratieverachtung von der heute überall gegenwärtigen Volksverachtung.





Marco F. Gallina, Jahrgang 1986, studierte in Bonn und Verona Italienische Literatur, Politikwissenschaft und Geschichte mit Schwerpunkt auf europäischer Diplomatiegeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit (Reichsgeschichte, Italien). Gallina ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter, nebenbei freier Autor und Betreiber des „Löwenblogs“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Luther als nützliches Instrument der Fürstenherrschaft („Faustische Zerrissenheit“ (JF 16/17).

Foto: Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit 3. Oktober 2018 mit Angehörigen der deutschen Elite: Zu Beginn eines ökumenischen Gottesdienstes sitzen im Berliner Dom in der ersten Reihe (v.l.n.r.) Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Claudia Müller, Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin und amtierender Bundesratspräsident, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Ingeborg Schäuble, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Elke Büdenbender und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier