© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

„Ein besiegtes Volk gedenkt wenig seiner im Krieg umgekommenen Soldaten“
Zum Volkstrauertag 2018: Eine Erinnerung an die in Gefangenschaft auf den Rheinwiesen umgekommenen Kameraden
Döring-Ernst von Gottberg

Spätes Frühjahr 1945 – Müde, durchfroren und hungrig ging ich frühmorgens durch das Lager. Die Nacht war kalt gewesen. In den US-Gefangenenlagern auf den Rheinwiesen gab es kein Dach über dem Kopf, keine Baracken, keine Zelte, keine Decken. Die deutschen Kriegsgefangenen lagen auf einem naßkalten Boden und hatten keinen Schutz vor Regen und Kälte. Mit Blechdeckeln hatten sie ein wenig den Schlamm zur Seite geschoben. Da lagen sie nun, Mann neben Mann, müde und körperlich geschwächt. Schlafende waren von den Verstorbenen nicht zu unterscheiden. Jeden Morgen mußten  die Verstorbenen vor das Lagertor gebracht werden.  Dann kam ein US-Laster, sammelte die Toten ein und schüttete sie irgendwo in ein Massengrab. Sie hatten das Leid überstanden. Ob sie noch identifiziert wurden? Die Zahl der Verstorbenen in den US-Kriegsgefangenenlager wurde nie bekanntgegeben!

„Auf einmal brauchte uns der Staat nicht mehr?“

Zur Verpflegung mußte ein weiches  amerikanisches Weißbrot für 50 Mann geteilt werden. Abends gab es manchmal eine wäßrige Suppe. Trostlosigkeit lag über dem Lager. Und doch gab es in diesem kaum ansehbaren Elend einen kleinen Hoffnungsschimmer: Als ich zu einer Gruppe von jungen Männern trat, sah ich einen Feldgeistlichen, ein erbärmlicher Gefangener genauso wie wir, und er predigte zu den noch sehr jungen Soldaten: „Nicht Sterben für euer Land, sondern Leben für euer Land, das ist jetzt eure Aufgabe! – Ihr sollt nicht mehr gehorchen und kämpfen, in Zukunft sollt Ihr einen Beruf erlernen, eine Familie gründen, vielleicht ein Häuschen bauen ...“ 

Die Bedeutung dieser Worte wird ein Heutiger nicht verstehen können. Für uns junge Deutsche, die wir damals wenig über „Glaube, Liebe, Hoffnung“ erfahren hatten, war das kaum zu begreifen. Wir waren zum Gehorchen und zur Härte erzogen worden. Auf einmal  brauchte uns der Staat nicht mehr? 

Die Gefangenen hörten zu und dachten an den Tag von Fronleichnam, als aus dem nahe gelegenen Dorf ein langer Zug von Gläubigen singend auf das Lager zugewandert kam. Als der Zug etwa fünfzig Meter vom Stacheldraht entfernt war, schossen die Posten mit Maschinengewehren vor dem Zug in den Boden, Sand flog auf und brachte  den Fronleichnamszug zum Stehen. Die Gläubigen sangen einige Kirchenlieder und beteten so laut, daß die Gefangenen es hören konnten. „Man war also außerhalb des Stacheldrahts noch nicht vergessen“, dachten die Gefangenen und dankten mit langem Klatschen für diese „Geste der Verbundenheit der Bevölkerung mit ihren Kriegsgefangenen“. So gab es in dem Elend der US-Gefangenenlager auf den Rheinwiesen manchmal ein kleines Zeichen der Hoffnung. 

Keiner der geschundenen Kriegsgefangenen hat die US-Amerikaner je als „Befreier“ erlebt, wir wurden als Angehörige einer „besiegten Feindnation“ behandelt. Es wäre der Siegermacht ein leichtes gewesen, die Gefangenencamps ausreichend zu versorgen. Man war aber nur an Kindern interessiert, an den Jahrgängen 1930 und folgende, die durch die US-Direktive über die „Reeducation“ von der Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ abgegrenzt werden sollten. Es bildete sich ein offizieller Zeitgeist, der zur Spaltung der deutschen Gesellschaft geführt hat.

Würdeloser und von ihrem Volk wenig beachteter Tod

Durch Kräfteverfall und den ständigen Hunger lernten die gefangenen Soldaten aus eigener bitterer Erfahrung das Vater-unser-Gebet „und gib uns unser täglich Brot“, und sie lernten angesichts von Elend, Gewalt und Sterben  die Gebetsworte „und erlöse uns von dem Bösen!“

Heute am Volkstrauertag gedenke ich der Kameraden, die in den Kriegsgefangenenlagern noch nach der deutschen Kapitulation einen würdelosen und von ihrem Volk wenig beachteten Tod sterben mußten.






Döring-Ernst von Gottberg, Jahrgang 1927, war US-Kriegsgefangener im Rheinwiesenlager Bretzenheim bei Bad Kreuznach. Er ist Autor des Buches „ Eine Jugend in Hitlers Reich. Erinnerung eines Zeitzeugen (Norderstedt 2013).