© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

Über die Opferzahlen ist noch nicht das letzte Wort gesprochen
Der Historiker Wolfgang Schaarschmidt hat eine erweiterte Auflage seines Buches über die Bombardierung Dresdens 1945 herausgebracht
Hans-Joachim von Leesen

Mehr als siebzig Jahre sind vergangen, seitdem in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges britische und US-amerikanische Bomberverbände eine der wenigen noch vom Luftkrieg verschonten deutschen Städte vernichteten. Knapp drei Monate später kapitulierte die deutsche Wehrmacht, und die sowjetische Armee rückte in die Trümmerwüste von Dresden ein. Zeit, die vielen zivilen Opfer der barbarischen, ohne einen nennenswerten militärischen Sinn durchgeführten Luftangriffe sorgfältig zu bergen, hatten die Dresdner nur unzureichend gehabt.

Jahrzehntelang wurde nach 1945 diskutiert, wie viele Menschen ihr Leben im Inferno verloren hatten. Der Spekulation war Tür und Tor geöffnet, da die amtlichen deutschen Stellen keine verläßlichen Gesamtzahlen veröffentlicht hatten. In der Nachkriegszeit kursierten Zahlen bis zu 350.000 Opfern, die ebensowenig zu verifizieren waren wie die Behauptung, die „Nazis“ hätten mit stark überhöhten Zahlen eine Art Greuelpropaganda verbreiten wollen. Der Kampf um diese Zahlen geriet nach 1990 zunehmend zum Politikum.

Historikerkommission hatte auch politischen Auftrag

Kurz vor dem 60. Jahrestag des grauenhaften Ereignisses berief der Oberbürgermeister von Dresden Ingolf Roßberg eine Historikerkommission. Leider hatte diese von Beginn an den Makel, tendienziös bei der Zahlenermittlung als verlängerter „Kampf gegen Rechts“ zu arbeiten, um, wie Roßberg öffentlich erklärte, der „dumpfen deutschtümelnden Propaganda“ und den „nationalistischen Phrasen“ der „rechtsradikalen Nationalisten“ zu widersprechen. Und schon vier Monate später verkündete der Vorsitzende der Kommission das erste Ergebnis: die Angriffe hätten höchstens 25.000 Tote gefordert. Viele Historiker waren überrascht, daß die bis dahin als Mindestzahl geltenden 35.000 Opfer derart widerlegt wurden. Kritische Beobachter sahen ihre Befürchtungen bestätigt, daß die Kommission politisch präjudizierend gearbeitet habe.

Einige gaben sich nicht mit dem Ergebnis der Kommission zufrieden. Einer von ihnen war Wolfgang Schaarschmidt. Er hatte als 13jähriger die Angriffe miterlebt, und das Erlebte ließ ihn nicht mehr los. Nachdem er seine Laufbahn als Hamburger Hafenarzt beendet hatte, absolvierte er ein Studium der Geschichte, um die Erforschung und Darstellung der Luftangriffe auf seine Vaterstadt professioneller vornehmen zu können. 

2005 erschien die erste Auflage seines Buches „Dresden 1945 – Daten, Fakten­ Opfer“. Schnell folgte die zweite Auflage. Es wurde allgemein als das fundierteste zu seinem Thema angesehen. Als das Ergebnis der Dresdner Historikerkommission vorlag, machte er sich daran, Einsicht in bislang unbearbeitete Quellen zu nehmen, und konnte dabei überraschende Ergebnisse zutage fördern. So hatte beispielsweise die offizielle Historikerkommission die Unterlagen nur eines Bergungskommandos auszuwerten, obgleich es noch weitere gegeben hatte. Schaarschmit erfuhr zudem, daß Teile der Unterlagen der Vermißtennachweiszentrale nach dem Einmarsch der Roten Armee geplündert worden waren. 

Die Kommission hatte im Abschlußbericht 2010 verlautbart, es seien keine Menschen im Feuersturm rückstandslos verbrannt, weil die notwendige Temperatur von mindestens 800 Grad Celsius nicht erreicht wurde. Dabei stieß Schaarschmidt auf Berichte, in denen über einhundert Funde von geschmolzenem Glas dokumentiert waren, für das über tausend Grad notwendig gewesen war.

Die nun vorliegende dritte Auflage seines Buches ist nochmals vollständig überarbeitet und erweitert worden, vor allem um zwei Sonderkapitel von Gert Bürgel über die ebenso heiß diskutierte Frage, ob während und nach den Angriffen US-amerikanische Jagdbomber Tieffliegerangriffe auf die aus dem Feuermeer fliehenden Dresdner flogen.

Schaarschmidt schließt sein Buch mit der Zusammenfassung: „Wägen wir die Ereignisse, Aussagen und Archivalien sowie die in der Größenordnung übereinstimmenden Zeugnisse ab, die mit dem Verlauf und den Folgen der Katastrophe im Einklang stehen, dann sind im Februar und März 1945 durch anglo-amerikanische Terrorangriffe mindestens 100.000 Menschen getötet worden. Schätzungen von 100.000 bis 150.000 Toten sind begründet.“

Wolfgang Schaarschmidt: Dresden 1945. Daten – Fakten – Opfer. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Ares Verlag, Graz 2018, gebunden, 334 Seiten, 29,90 Euro