© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Streit um den Pakt
Migration: Lange herrschte Einvernehmen / Jetzt wachen Regierungen auf
Martina Meckelein

Die Vereinten Nationen sind eine ehrenwerte Organisation. Sie hat sich der Sicherung des Weltfriedens verschrieben – und das seit 1945. Über 130 Kriege wurden seit dem geführt mit, rund 25 Millionen Toten. Aktuell zählen 193 Staaten zu ihren Mitgliedern. 192 von ihnen einigten sich im Sommer 2018 darauf, den Entwurf zum Migrationspakt am 10. und 11. Dezember in Marrakesch abzusegnen. UN-Generalsekretär António Guterres sprach in diesem Zusammenhang von einer wahrhaft historischen Vereinbarung. Doch seit einigen Wochen werden die kritischen Stimmen lauter. Immer mehr Mitgliedsstaaten scheren kurz vor Ratifizierung des Paktes aus. Was sind ihre Gründe? JF dokumentiert den Stand bis 20. November, 17 Uhr.


Israel

Israel steigt aus. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte im Fernsehen: „Ich habe das Außenministerium angewiesen, zu verkünden, daß Israel nicht teilnehmen und das Einwanderungsabkommen nicht unterzeichnen wird. Wir sind entschloßen, unsere Grenzen gegen illegale Eindringlinge zu halten.“ Regierungsbeamte hatten ein Nein zum Pakt erwartet. In den Medien, wie bei Israels Channel 10 News, wurde er am Montag mit den Worten zitiert: „Wir sind grundsätzlich nicht für den Global Compact for Migration und werden wahrscheinlich nicht dazugehören.“ Angeblich sollen Viktor Orbán und Sebastian Kurz vor Monaten auf Israels Entscheidung Einfluß genommen haben. Befürworter des Paktes, wie Deutschland und Großbritannien, versuchten ebenfalls auf Netanjahu einzuwirken – erfolglos.


Finnland

Innenminister Kai Mykkänen (Nationale Sammlungspartei, Kansallinen Kokoomus) wird Finnland in Marrakesch repräsentieren. Das Außenministerium betont, daß das Abkommen rechtlich nicht bindend sei und Finnland die Kontrolle über seine Grenzen behalte. Die Regierung hat das Parlament über die Inhalte des Pakts unterrichtet. Die zuständigen Ausschüsse hatten keine Einwände dagegen. Das Parlament gab daraufhin Anfang November grünes Licht. Lediglich die Wahren Finnen (Perussuomalaiset) unter ihrem Parteichef und Europaabgeordneten Jussi Halla-aho protestieren gegen den Beitritt zum Migrationspakt und warnen vor dessen Unterzeichnung. 


Rußland

Wenn es um Sanktionen gegen Schurkenstaaten geht, blockiert Rußland gerne einmal. Dem UN-Migrationspakt gegenüber scheint Präsident Wladimir Putin aber aufgeschlossen zu sein. Der Nachrichtensender RT Deutsch schreibt: „Es ist festzuhalten, daß Moskau das Migrationsabkommen grundsätzlich begrüßt.“ Das sagte Alexej Akdschigitow, der russische Repräsentant schon beim Internationalen Dialog für Migration im März dieses Jahres. Interessant ist, daß Rußland, als ersten Schritt eine Befriedung der Konflikte in den Ländern fordert, aus denen das Gros der Migranten stammt. Diese Konflikte seien der Hauptgrund von Zwangsvertreibungen. Rußland geht also nicht von einer Wirtschaftsmigration aus den betroffenen Staaten aus. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, sagte, Rußland begrüße die Verabschiedung des Paktes, doch gebe es noch beunruhigende Fragen, die ausgeräumt werden sollten. Sie betonte die Verantwortung der Länder, die nach Meinung Rußlands sich in die inneren Angelegenheiten der Nahost- und nordafrikanischen Länder einmischten.


Kroatien

Will den Pakt annehmen. Innenminister Davor Božinovic wird für Kroatien nach Marokko fahren. „Das Dokument stellt kein Problem dar“, sagt der Premierminister Andrej Plenkovic. In der kroatischen Presse wird er so zitiert: „Wir haben unsere Verantwortlichkeiten, unsere Aufgaben, und wir glauben, daß das eine gute und verantwortungsvolle Botschaft sowohl für die kroatische Öffentlichkeit als auch für alle unsere Partner ist.“ Das provozierte Kritik von konservativen Kräften. Der kroatische Intellektuelle Hrvoje Pende von der Bürgerrechtsinitiative „Narod odlucuje“: „Wegen der Brüsseler Eurokraten haben wir immer mehr Europa, aber immer weniger Europäer.“ Ex-Kulturminister Zlatko Hasanbegovic sagte: „Wir sind absolut gegen die Teilnahme am Marrakesch-Übereinkommen.“ Die konservative Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic will noch Fragen, die sich aus dem Pakt ergeben, diskutieren.


Schweden und Dänemark

Schweden hat seit dem 25. September eine Übergangsregierung. Das Land könnte zustimmen. Dänemarks Minderheitsregierung hat sich noch nicht geeinigt. Sie wird allerdings von der Volkspartei gestützt, die den Pakt ablehnt.


Bulgarien

ist gegen den Pakt. „Wir betrachten es zu diesem Zeitpunkt als richtig, ihn abzulehnen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Regierungspartei Gerb, Zwetan Zwetanow, nach einem Treffen mit dem nationalistischen Koalitionspartner Vereinte Patrioten.


China, Japan, Südkorea

Es gibt keine Information über die aktuellen Positionen der drei asiatischen Staaten. Sie sind keine Einwanderungsländer für Flüchtlinge, allerdings steigt auch hier der Druck. Beispiel Japan: 1999 beantragten 260 Personen Asyl, genehmigt wurde es 16mal. Im Jahr 2008 waren es 1.599, genehmigt wurden 57 Anträge. 2016 haben 10.901 Personen Asyl beantragt, 28 von ihnen wurde der Antrag genehmigt (0,3 Prozent).


Italien

Da staunt der Fachmann, und der Laie wundert sich. Noch vor zwei Wochen versicherte Mariangela Zappia, Italiens Vertreterin bei der UN, daß ihr Land dem Pakt beitrete. Dabei ist Italiens Regierung bekannt dafür, eine restriktive Einwanderungspolitik zu befürworten. Ob der parteilose Außenminister Enzo Moavero Milanesi seiner Regierung da ein Bein stellen will? Auf der Facebook-Seite des Innenministers Matteo Salvini der sich zu jedem noch so kleinen Migrantenthema, zu Räumungen von illegalen Roma-Lagern oder Antifa Sprühaktionen gegen die Lega äußert – herrscht Schweigen. In Italien spielt der Migrationspakt in der öffentlichen Diskussion keine Rolle, behauptet die Welt. Die Tiroler Tageszeitung berichtete am Sonntag, daß die rechte Partei Fratelli d`Italia (Brüder Italiens) einen Antrag im Parlament eingereicht habe, in dem die Regierung aufgefordert werde, ihre Unterstützung zum UN-Migrationspakt zurückzunehmen.


Australien

ist gegen den Pakt. Unglaublich aber wahr: Das alles beherrschende Thema in den aktuellen Schlagzeilen der australischen Presse ist nicht der Migrationspakt, sondern die Frage, ob Zwiebeln auf oder unter dem Würstchen zu servieren seien. Wenn sie oben drauf liegen, könnten sie leichter runterfallen, und die Rutschgefahr würde exorbitantes Gefahrenpotential in sich tragen. Das berichtete sogar am 14. November die New York Times. Innenpolitisch ist es so, daß die Liberalen ihren Premierminister ausgetauscht haben. Malcolm Turnbull wurde im August durch Scott Morrison abgelöst. Im Juli und im August 2018 sprach sich Innenminister Peter Dutton dagegen aus, den Pakt zu unterschreiben. Dieser Meinung waren auch viele konservative Liberale. Der Pakt verletze die Souveränität des Landes. Australien ist am 3. August 2018 aus dem UN-Migrationspakt ausgeschieden. Dem Flüchtlingspakt (siehe Seite 14) will Australien allerdings beitreten.


Polen

Polen steigt aus dem UN-Migrationspakt aus. Gerade bei der scharfen Kritik aus den Reihen der nationalkonservativen Partei PiS war diese Entscheidung zu erwarten. Vergangene Woche kündigte Innenminister Joachim Brudzinski sagte, er werde Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, ebenso ein Kritiker des Migrationspakts, empfehlen, von der Sache „zurückzutreten“. Der Vertrag sei ein Anreiz für illegale Migration und könne die Sicherheit Polens nicht garantieren. 


Österreich

ist gegen den Pakt und hat in diesem Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das österreichische Nein könnte auf bestimmte Länder, die eh skeptisch dem Pakt gegenüberstehen, eine Signalwirkung haben. Bundeskanzler Sebastian Kurz begründete die Ablehnung damit, daß der Pakt nicht geeignet sei, Migrationsfragen zu regeln. Es fehle darüberhinaus auch eine klare Unterscheidung von „legaler und illegaler Migration“.


Kanada

hält am Pakt fest. Die Regierung von Justin Trudeau (Liberale Partei) ist der Meinung, daß alle Staaten gemeinsam das Flüchtlingsproblem zu lösen hätten. Dadurch sollen vor allem die Länder im Nahen Osten und der Subsahara Afrikas entlastet werden, die einen großen Teil der Flüchtlinge aufnehmen würden. Allerdings üben die Konservativen harsche Kritik. Sie befürchten, daß Kanada durch die geplante Beteiligung am Pakt Teile der Souveränität an die UN abgebe. Eine Online-Petition gegen den Pakt, die im Oktober startete, unterschrieben bisher 20.000 Kanadier.


Estland

Die Regierung in Tallin konnte sich am 15. November nicht entschließen, dem Pakt beizutreten. Regierungschef Jüri Ratas sagte laut Pressemitteilung der Staatskanzlei: „Bei der Bildung einer Koalition haben wir uns verständigt, Entscheidungen einvernehmlich zu treffen. Leider haben wir einen solchen Konsens heute nicht erreicht.“ Außenminister Sven Mikser hatte sich für einen Beitritt ausgesprochen. Der Justizminister Urmas Reinsalu vom konservativen Koalitionspartner hatte allerdings rechtliche Bedenken. Dessen Partei Pro Patria sehe die Gefahr, daß der Pakt Teil des internationalen Gewohnheitsrechts werde. Das Parlament soll am 26. November über den Pakt entscheiden.


Tschechien

Am 14. November sagte Vizeregierungschef und Umweltminister Richard Brabec nach einer Kabinettssitzung: „Die Regierung hat entschieden, daß sich Tschechien diesem Pakt nicht anschließt.“ Die Minderheitsregierung aus ANO und sozialdemokratischer CSSD kritisiert, daß der Pakt nicht ausreichend zwischen „legalen und illegalen Migranten“ unterscheide. Aus Sicht des Ministerpräsidenten und Ano-Gründers Andrej Babiš hätten Bootsflüchtlinge aus Afrika keinen Anspruch auf Asyl. Der Bild-Zeitung sagte er im September 2018: „Wir müssen auch die Zivilisation verteidigen, die unsere Vorfahren aufgebaut haben, unsere Kultur.“


Slowenien

Am 15. November berichteten die Salzburger Nachrichten, daß Slowenien am Pakt festhalten werde. Außenminister Miro Cerar von der Mitte-Links-Regierung sagte, die Absagen Österreichs und Ungarns seien kein Grund, daß Slowenien dem folgen solle. Er wirft der konservativen Opposition vor, mit Fehlinformationen Angst zu schüren. Er glaube, durch die Vereinbarung würden Länder noch effektiver illegale Migration und ähnliche Einwanderungströme wie die von 2015 verhindern können. Außerdem würden damit Rückführungen in Herkunftsländer erleichtert. Interessant ist seine Aussage, daß Slowenien die Zusammenarbeit auf afrikanische und asiatische Länder ausweiten könne, um die illegale Migration koordiniert zu verhindern.


Belgien

Es drohe eine Regierungskrise, meldeten die belgischen Zeitungen Anfang der Woche. Grund: der Streit über den Pakt zwischen Premierminister Charles Michel von der französischsprachigen liberalen Partei MR und dem Koalitionspartner den flämischen Nationalisten N-VA. Diese vertreten laut der Tageszeitung De Tijd eine harte Linie in der Migrationspolitik und lehnt den Pakt in der jetzigen Form ab. Die Tageszeitung Le Soir kommentiert: Belgien müsse den Migrationspakt unterzeichnen, allein schon deshalb, weil der Premier ihn auf der UN-Vollversammlung als Meilenstein gepriesen habe. Eine Ablehnung komme einem Gesichtsverlust gleich. Eine Kompromißlösung könnte ein Zusatzprotokoll sein, das die Vereinbarungen des Paktes als nicht bindend festschreibt.


Ungarn

Nach Vorlage des endgültigen Textentwurfes zog Ungarn im Juli 2018 sich aus dem Pakt zurück. Der Außenminister Péter Szijjártó begründete dies damit, daß der Pakt gefährlich für die Welt und Ungarn sei und Millionen Menschen zur Auswanderung verleite“, so der Focus. Zudem trage der Pakt nicht zu einem fortschrittlichen Umgang in der Migration bei.