© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Merkels Erben beschwören den Aufbruch
CDU-Regionalkonferenz: Das muntere Schaulaufen um den Parteivorsitz ist eröffnet / Jens Spahn fordert Debatte über UN-Migrationspakt
Werner Becker

Der Andrang ist gewaltig. Und hat die Parteiverantwortlichen der CDU ganz offensichtlich überrascht. Schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn bleibt in der Halle der Lübecker Kulturwerft Gollan kaum noch ein Stuhl frei. Kein Vergleich zur Zuhörtour der CDU-Generalsekretärin vom Sommer, bei der die Parteiführung ihre Mitglieder noch verzweifelt mit Freibier und Gratis-Eis versuchte auf die äußerst kostspieligen Veranstaltungen zu locken. 

Jetzt ist alles anders. Aufbruchstimmung liegt in der Luft. 800 Parteimitglieder sind gekommen. 250 Journalisten. Sie alle erwarten mit Spannung den ersten Auftritt der drei Kandidaten für das Amt des CDU-Parteichefs.

Reihenfolge der Redner wird per Los entschieden

Schnell ist klar: Viele müssen die Reden von Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz und Jens Spahn im Stehen verfolgen. Wenn sie es überhaupt in den Saal schaffen. Einige bleiben draußen in der Vorhalle, verfolgen das Geschehen über aufgestellte Fernseher. Plötzlich brandet Beifall auf. Die Kandidaten bahnen sich einen Weg durch die Menge. Lächeln für die Kameras. Alle drei betonen, daß sie nicht gegeneinander arbeiten wollen. Konkurrenten seien die anderen Parteien. Die Reihenfolge der Redner bestimmt das Los. Annegret Kramp-Karrenbauer ist als erste dran. Ein Vorteil?

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther tritt ans Rednerpult. Mäßiger, pflichtschuldiger Beifall. Jemand ruft aus der Menge, auch er solle kandidieren. Günther greift das dankbar auf. „Einige haben ja schon gerufen, ich solle auch kandidieren“, beginnt er seine Begrüßungsrede. Und wird von einigen energischen Nein-Rufen unterbrochen. Dann spricht „AKK“. Die amtierende CDU-Generalsekretärin erhält ordentlichen, aber keinen überschwenglichen Beifall. Sie lobt Angela Merkel dafür, daß sie „den Weg frei gemacht hat“. Was dann kommt, sind sorgfältig kalkulierte Breitseiten gegen die Politik der Noch-Parteivorsitzenden. „Die CDU muß die Partei sein, die bei Dunkelheit das Licht anmacht, statt die Vorhänge zuzuziehen, damit man die Dunkelheit nicht sieht.“ 

Jeder im Saal weiß: Die Kanzlerin hatte in den vergangenen Jahren zu häufig die „Vorhänge“ zugezogen. Vor allem in der Debatte um ihre Migrationspolitik. „Sind wir noch die Partei der inneren Sicherheit?“ fragt die 56jährige in die Menge. Auch den Mangel an Diskussion, der in der Merkel-Ära zu parteiinterner Kritik geführt hatte, greift sie auf. „Es muß sich umkehren. Erst Debatte in der Partei, dann in der Fraktion und dann im Parlament.“ Beifall brandet auf, die Generalsekretärin hat den richtigen Nerv getroffen. Als im Anschluß Friedrich Merz an das Rednerpult tritt, bricht sogar ein kleiner Jubelsturm los, der bisher stärkste Applaus. Dabei waren Insider davon ausgegangen, daß auf der Lübecker Regionalkonferenz Kramp-Karrenbauer mehr Sympathien für sich verbuchen würde. Doch der einstige CDU/CSU-Fraktionschef braucht ein wenig, um warm zu werden, bekommt nach den ersten Sätzen Gegenwind. „Es macht richtig Spaß, wieder dabeizusein.“ Die CDU habe ihm gefehlt, beginnt er. Hämisch langgezogene Oh-Rufe aus den vorderen Reihen, wo Daniel Günther und merkeltreue Funktionäre sitzen. 

Merz überrascht mit Kritik an Horst Seehofer statt an Angela Merkel, nimmt sie gegen dessen Verhalten auf dem CSU-Parteitag 2015, als Seehofer die Kanzlerin während seiner Rede wie ein getadeltes Schulmädchen auf der Bühne stehen ließ, ausdrücklich in Schutz. „So geht man mit einer CDU-Vorsitzenden nicht um“, betont er. Ungläubiges und zögerliches Klatschen sowohl bei Merkel-Anhängern als auch Merz-Befürwortern. „Wir brauchen eine Partei, die von unten nach oben diskutiert, nicht umgekehrt“, läßt er später doch Kritik am Führungsstil Angela Merkels durchblicken. 

Während Kramp-Karrenbauer sich bemüht, nicht als Mini-Merkel wahrgenommen zu werden, und Merz darum, nicht als Anti-Merkel zu gelten, bringt Jens Spahn diesen Rollentausch auf den Punkt: „Ich glaube, wir überraschen uns hier gerade alle gegenseitig.“ Auch Spahn wird mit höflichem Applaus bedacht. Jedoch mit deutlich reduzierterer Dosis. Dafür schaltet der Bundesgesundheitsminister sofort auf Angriff. „Wir sind froh, daß Sie wieder dabei sind“, sagt er an Merz gewandt. „Allerdings hätte ich mir gewünscht, daß Sie sich schon in den Jahren vorher mit eingebracht hätten.“ 

Im Angriffsmodus hat Spahn sich eine neue Waffe zugelegt: die – zaghafte – Kritik am auch an der Parteibasis umstrittenen Migrationspakt. So hält er eine Verschiebung der deutschen Zustimmung für denkbar. Andere sind da schon weiter. Die CDU Sachsen-Anhalt hat auf ihrem Landesparteitag die Bundesregierung zur Ablehnung des Pakts aufgefordert. Zu den Befürwortern des Antrags gehörten der neue Landeschef Holger Stahlknecht sowie Generalsekretär Sven Schulze. 

Unterstützung erhielt Spahn ebenfalls von Thüringens CDU-Chef Mike Mohring. Es sei richtig und notwendig, über das Für und Wider des Paktes auf dem Bundesparteitag zu sprechen. „Wir können als Volkspartei uns nicht die Debatte über ein Thema sparen, das überall in Deutschland die Menschen bewegt.“ 

Auffälligerweise ist bei der abschließenden Fragerunde in Lübeck kein einziges Mal von der Migrationspolitik die Rede. Zahlreiche Parteimitglieder bestätigen jedoch gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, daß sie entsprechende Fragen eingereicht hätten. „Die Organisatoren hätten zumindest die Möglichkeit, auf die Reihenfolge der Fragen Einfluß zu nehmen“, deutet ein Unionsfunktionär im Gespräch mit der JF vielsagend an.