© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

„Unterstellungen und Falschbehauptungen“
DDR-Forschung: Streit um Studie zu Toten an der Grenze / Zusammenhang mit dem „Fall Knabe“?
Jörg Kürschner

Im 30. Jahr nach dem Mauerfall mehren sich die Anzeichen dafür, daß bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur künftig andere, „zeitgemäßere“ Schwerpunkte gesetzt werden sollen. Ausgelöst durch den Streit über die Zahl der Toten an der innerdeutschen Grenze und den Rausschmiß von Gedenkstättendirektor Hubertus Knabe machen sich Historiker stark für einen Neuanfang, der die DDR weniger auf Menschenrechtsverletzungen reduziert. Das Verbände-Netzwerk der früheren Stasi-Mitarbeiter kann sich freuen.

Die DDR-Aufarbeitungsszene ist nach ruhigen Jahren inhaltlicher Arbeit in Bewegung geraten, vielleicht sogar in Aufruhr. Aktuell geht es um die Zahl der Grenztoten. Rückblick: Im Sommer vergangenen Jahres kam der „Forschungsverbund SED-Staat“ der Freien Universität (FU) Berlin in einer vielbeachteten Studie zu dem Ergebnis, 327 Menschen seien zwischen 1949 und 1989 Opfer des DDR-Grenzregimes geworden (JF 25/17). „Diese knapp 1.400 Kilometer lange Grenze war, wenn der Zynismus erlaubt ist, noch brutaler als die Berliner Mauer“, sagte damals Projektleiter Klaus Schroeder. „Menschen, die auf Bodenminen traten, sind zerfetzt worden, zum Teil sind sie im Unterholz nicht gesehen worden, Monate später wurden sie skelettiert als Leichen gefunden“. Kulturstaatsministerin Monika Grütters würdigte, daß das von der Bundesregierung mit rund 450.000 Euro unterstützte Forschungsprojekt den Opfern wieder Namen und Gesicht gebe.

Bericht zweifelt an den     Zahlen der Untersuchung

Knapp eineinhalb Jahre später muß sich der renommierte Zeithistoriker heftiger Kritik erwehren. Die Zahlen seien nicht korrekt, Täter würden in mindestens 50 Fällen zu Opfern gemacht, will der öffentlich-rechtliche Sender RBB herausgefunden haben. Nun gibt es zahlreiche Fälle, die nicht eindeutig sind, wie etwa das Beispiel des ehemaligen DDR-Grenzers Günter Jablonski illustriert. Im Alter von 18 Jahren erschoß er 1962 seinen Postenführer, flüchtete nach Bayern und wurde wegen Mordes zu neun Jahren Haft verurteilt. 16 Jahre später wird Jablonski am Grenzkontrollpunkt Marienborn festgenommen, als er mit seiner Familie auf der Transitstrecke nach Berlin (West) reisen will. Das DDR-Militärobergericht verurteilt ihn wegen Mordes und Fahnenflucht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, „Im stillen wurde Jablonski am 15. Dezember 1988 nach Bemühungen der Bundesregierung in den Westen entlassen, was auf der Leitungsebene in der Vollzugsanstalt Rummelsburg zu einigem Unmut führte“, heißt es in der Studie. Nach dem Ende der DDR rehabilitierte das Kammergericht Berlin Jablonski, weil dessen Festnahme unter Verletzung des Transitabkommens erfolgt war. Aufgrund der Doppelbestrafung wegen Mordes erhält er rund 37.000 Euro Haftentschädigung. Jablonski, ein Täter und Opfer zugleich.

Schroeder wird insbesondere vorgehalten, Selbstmörder unter DDR-Uniformierten als Opfer zu deklarieren, wenn ein Zusammenhang mit dem Grenzregime nicht eindeutig nachzuweisen sei. Dazu wird in einer Presseerklärung des Forschungsverbunds betont, der RBB-Bericht verschweige den ausdrücklichen Hinweis, daß Selbsttötungen nur selten monokausal begründet seien, vielmehr meist komplexe Ursachen zusammenwirkten. Im übrigen habe der RBB auf Unterlagen zurückgreifen können, die dem Forschungsverbund seinerzeit nicht vorlagen. Schroeders Fazit: „Falschbehauptungen, Unterstellungen, Mutmaßungen“.

Wer erwartet hatte, der Politikwissenschaftler und seine journalistischen Kritiker würden gemeinsam versuchen, die Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, sah sich enttäuscht. Es kam anders. Die Bundeszentrale für politische Bildung unter der Führung des früheren SPD-Politikers Thomas Krüger nahm die Expertise in vorauseilendem Gehorsam aus dem Programm; ausgerechnet am Jahrestag des Mauerfalls. Die CDU-Politikerin Grütters kündigte öffentlich an, man werde den „Vorwürfen nachgehen, die bemängelten Fälle prüfen und erneut wissenschaftlich bewerten lassen“. Vertrauen in die wissenschaftliche Kompetenz Schroeders sieht anders aus.

Daß die Kulturstaatsministerin wenig auf die Meinung DDR-kritischer Wissenschaftler gibt, hatte sich bereits bei der Kündigung Knabes Ende September gezeigt. Im Einvernehmen mit Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) setzte sie dem erfolgreichen Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen von heute auf morgen den Stuhl vor die Tür (JF 41/18). In über 17 Jahren hatte der profilierte Historiker die Gedenkstätte zum bedeutendsten Ort der Aufarbeitung der SED-Diktatur gemacht. Gehen mußte er, weil seinem Stellvertreter Helmuth Frauendorfer sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen vorgeworfen wird. Zu Knabe habe kein Vertrauen mehr bestanden, da er „über Jahre Mißstände in seinem Haus geduldet und durch seinen Führungsstil und eigenes Verhalten sogar befördert hat“.

Gegner wittern Chance, DDR milder zu bewerten

In der Aufarbeitungsszene wird Knabes Entlassung zutreffend als Zäsur gewertet. Wie kein anderer hat der 59jährige die Auseinandersetzung mit dem Unrechtsstaat dominiert und nicht selten durch harsche Kritik an der SED-Nachfolgepartei Die Linke, der Partei seines Vorgesetzten Lederer, im Stiftungsrat unterfüttert. Knabes zahlreiche Gegner wittern jetzt die Chance, die DDR in milderem, weniger konfrontativem Licht zu zeichnen. „Der Kommandant muß abtreten“, frohlockte etwa der Schriftsteller Karsten Krampitz. Knabes Verständnis von Geschichtswissenschaft sei „äußerst fragwürdig“, da antikommunistisch geprägt. Ilko-Sascha Kowalczuk, Projektleiter in der Stasi-Unterlagenbehörde, beklagte nach Knabes Rauswurf, es sei zuwenig Platz für Grautöne in der DDR-Aufarbeitung. „Das muß sich ändern. Die Krise in Hohenschönhausen bietet dafür eine echte Chance“. Die Autorin Jana Hensel fordert einen Neuanfang der Aufarbeitung, „weil sie ebenso eine Geschichte über die DDR wie über die Nachwendezeit ist“. 

Seit dem Mauerfall 1989 geht es um die Deutungshoheit über die jüngere deutsche Geschichte. Diese in ihrem Sinne zu beeinflussen, das verstehen die Ex-Stasi-Mitarbeiter seit ihrem jähen Machtverlust als ihr persönliches Vermächtnis, als letzten Dienst am Arbeiter-und-Bauern-Staat. „Diese Schwarzweißmalerei der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinreicht, muß man überwinden“, gibt sich Hans Bauer selbstbewußt, der zu DDR-Zeiten als stellvertretender Generalstaatsanwalt zur Nomenklatura gehörte. Heute leitet er die GRH, die Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung, eine Lobbyorganisation für DDR-Staatsfunktionäre. Er kann sich bestätigt fühlen: „Auch die Auswahl der Gedenkorte ist falsch gewesen, weil damit die DDR in die Nähe des faschistischen Regimes gestellt wird. Es gab eine lange antifaschistische Tradition in der DDR.“

Während die Stasi-Veteranen weiterhin die DDR verklären und deshalb isoliert sind, werden die zahlreichen Knabe-Gegner in der Aufarbeitungsszene von einigen Medien unterstützt, die den „neuen Aufbruch“ kritiklos orchestrieren. Daß der geschaßte Direktor über Jahrzehnte ein verläßlicher Fürsprecher der vom Staatssicherheitsdienst geschundenen Häftlinge war und Verharmlosungen der Diktatur nicht zuließ, spielt medial kaum noch eine Rolle. „Wir sind bestürzt, daß kein einziges Medium die Veröffentlichung Ihres Protests für wert erachtete“, beklagten drei Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats der Gedenkstätte in ihrem Schreiben an die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG). 

Freya Klier, Heidi Bohley, die unter der DDR-Diktatur leiden mußten, sowie die Politikprofessorin Barbara Zehnpfennig hatten ihr Mandat in dem Gremium „unter Protest“ niedergelegt. Willkür und Rufmord werfen sie dem Stiftungsratsvorsitzenden Lederer vor, nahezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit. 

Klaus Schroeder, Jochen Staadt (Hrsg.): Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989, Verlag Peter Lang, Berlin 2017, gebunden, 684 Seiten, 49,90 Euro





Grenztote laut Forschungsverbund 

238 Todesopfer im Grenzgebiet, gruppiert nach den Umständen ihres Todes

darunter

? 114 Flüchtlinge

? 42 Todesfälle ohne Fluchthintergrund durch Schußwaffen, 

Minen oder Unfälle im Grenzraum und in Grenzanlagen

? 24 Fälle von Fahnenflüchtigen der DDR-Grenztruppen, 

die erschossen wurden, Minen auslösten, ertranken 

oder nach dem Scheitern ihres Fluchtversuchs Suizid verübten

? 2 Todesfälle von westdeutschen Zollbeamten, die von DDR-Grenzpolizisten 

erschossen wurden

24 Todesfälle in Ausübung des DDR-Grenzdienstes

darunter

? 9 Grenzsoldaten, erschossen von Fahnenflüchtigen

? 3 Grenzpolizisten, erschossen von Patrouillen der US-Streitkräfte

? 1 Grenzsoldat, erschossen durch Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes

21 Todesfälle im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes

darunter

? 8 hingerichtete ehemalige DDR-Grenzpolizisten

? 6 Personen, erschossen von sowjetischen, CSSR- oder NVA-Deserteuren

? 1 von einem betrunkenen Grenzsoldaten erschossener Zivilist

? 1 in Moskau hingerichteter Zollbeamter

44 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten mit dienstlichem Hintergrund