© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Ein verdrängter Pakt
Compact on Refugees: Nicht nur der UN-Migrationspakt, auch der UNHCR-Flüchtlingspakt birgt reichlich Zündstoff
Marc Zoellner

Bidi Bidi ist ein Häusermeer, so weit das Auge reicht: Tausende provisorisch angelegte Hütten reihen sich hier dicht an dicht, nur sporadisch unterbrochen von kleinen Ackergärten und eilends errichteten Zeltquartieren, die die Flagge der Vereinten Nationen zieren. Vor zwei Jahrzehnten noch war Bidi Bidi ein Dorf von kaum zwei Dutzend Bauernfamilien, einen Steinwurf südlich der Grenze zum Sudan gelegen. Im Herbst 2018 zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bereits über 270.000 Einwohner, die mit 250 Quadratkilometern eine Fläche von der Größe Frankfurts am Main besiedeln. Durch die Bürgerkriege im Kongo und speziell im Südsudan darf Uganda sich nun rühmen, das größte Flüchtlingscamp der Welt zu beherbergen.

Neue umfassende Rechte für Flüchtlinge

Zwar rühmt sich die Regierung in Kamapla ihrer Politik der offenen Grenzen – und auch, an diese generös kleine Parzellen mit Ackerland zur Deckung des Eigenbedarfs verpachtet zu haben. Doch die Flüchtlingswellen sind für Uganda noch immer ein reines Zuschußgeschäft. „Die gut 200 Millionen US-Dollar an Entwicklungshilfe, die das Land dieses Jahr erhalten hat“, wußte die New York Times Ende Oktober zu berichten, „werden zum Großteil darauf verwendet, um die Flüchtlinge zu ernähren und zu versorgen.“ Es ist eine Politik mit defizitären Folgen für die eigenen Bürger: So stieg allein der Anteil verarmter Ugander in den vergangenen vier Jahren von 20 auf über 27 Prozent, 10,1 Millionen Bürger, an, warnt die afrikanische Entwicklungshilfeorganisation Development Initiatives in ihrem jüngsten Bericht zu Uganda.

In seiner Notlage befindet sich der ostafrikanische Staat längst nicht allein: „Während der letzten zwei Jahrzehnte ist die Anzahl der gewaltsam vertriebenen Menschen weltweit von 33,9 Millionen im Jahr 1997 auf 65,5 Millionen im Jahr 2016 erheblich gewachsen“, konstatiert das UNHCR. Jede einzelne Minute, errechnete das Flüchtlingshilfswerk, kämen zwanzig neue Vertriebene hinzu; allein für 2016 seien 10,3 Millionen neue Geflüchtete erfaßt worden. Von den weltweit Vertriebenen hielten sich rund 40 Millionen noch innerhalb der eigenen Landesgrenzen auf. „Die Last und Verantwortung“, die ins Ausland geflohenen 25 Millionen Menschen zu versorgen, fiele jedoch „weiterhin unverhältnismäßig einer kleinen Anzahl von Ländern zu“, mahnte das UNHCR. „Derzeit beherbergen gerade einmal zehn Länder über sechzig Prozent der Flüchtlinge dieser Welt.“

Es ist eine Last, die laut den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gerechter verteilt gehört. Aus diesem Grund hatte der Staatenbund bereits im September 2016 die „New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten“ verabschiedet. Ergebnis: der „Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“, kurz „UN-Migrationspakt“, sowie der „Globale Pakt zu Flüchtlingen“ („Global compact on refugees“), dessen Ratifizierung bereits für den November vorgesehen ist. 

Doch während der UN-Migrationspakt derzeit durch die Presse geistert und aufgrund des angekündigten Ausstiegs von über einem Dutzend Teilnehmerstaaten konträr diskutiert wird, bleibt es seltsam ruhig um letzteres Abkommen. Dabei lohnt sich ein genauerer Blick auf den Inhalt des UN-Flüchtlingspakts durchaus. Denn im gleichen Maße, in welchem der Vertrag Flüchtlingen ab 2019 umfassende Rechte in ihren Gastländern zugestehen möchte, sehen sich die Unterzeichnerstaaten wachsenden Pflichten ausgesetzt – angefangen bei der Integration der Flüchtlinge auf dem Arbeits- und Bildungssektor, über Maßnahmen gegen sexuelle und Geschlechtsdiskriminierung, bis hin zur Bekämpfung der primären Ursachen für Flucht und Vertreibung.

Zwei Jahre lang hatten die Unterzeichner an ihrem Abkommen gefeilt, um sich am Ende auf einen Vertragstext im Umfang von 107 Paragraphen zu einigen. Bereits im vierten davon geben die Vereinten Nationen ihren Kritikern Entwarnung: „Der Globale Pakt ist rechtlich nicht bindend“, heißt es dort. „Doch er stellt den politischen Willen und das Bestreben der internationalen Gemeinschaft als ein Ganzes dar, die Zusammenarbeit und Solidarität mit Flüchtlingen und Gastländern auszubauen. Er wird ermöglicht durch freiwillige Beiträge, um gemeinsame Ergebnisse zu erzielen.“ 

Amnesty International ist trotzdem nicht zufrieden

Keineswegs, so das UN-Flüchtlingshilfswerk, solle der Flüchtlingspakt also die Souveränität der unterzeichnenden Staaten untergraben. Wer teilnimmt, belastet sich freiwillig mehr. Nicht verpflichtend und doch in die Verpflichtung genommen – so liest sich der neue Vertragstext, die bereits dritte Überarbeitung des UN-Flüchtlingspakts, auch für Farida Bena. „Dieser Entwurf führt eine härtere Sprache der Verantwortung ein, beim Teilen von Verpflichtungen, sowie deutlichere Wege der Umsiedlung“, kommentiert die Entwicklungshilfeexpertin des New Yorker International Rescue Committee (IRC) den Gesetzestext. „Im großen und ganzen glaube ich, daß dieser Entwurf einen akzeptablen Kompromiß darstellt.“ Zumindest das IRC zeigt sich mittlerweile zufrieden; gehörte es doch noch im Juni dieses Jahres, ebenso wie Amnesty International, zu den schärfsten Kritikern der damaligen Überarbeitung. „Der letzte Entwurf war ein erheblicher Schritt rückwärts von jenem, nur von geringem Ehrgeiz geprägten Dokument, mit welchem begonnen wurde“, klagte damals Benas IRC-Kollegin Sarah Charles. „Es zeigte sich ein wahrer Widerwille unter den Mitgliedsstaaten, konkrete Ideen zur Verpflichtungsteilung beizusteuern und wirksame Verantwortungsmechanismen einzufügen.“

Tatsächlich finden sich auch im jüngsten Entwurf keine Paragraphen, die Umfang und Ausmaß an Verpflichtungen der Unterzeichnernationen quantitativ zu benennen wagen. Konfliktscheu wurde die Diskussion dieses strittigen Punkts auf den Januar 2019 verschoben, nach Unterzeichnung des finalen Entwurfs, während einer Flüchtlingskonferenz im schweizerischen Genf. 

„Ein regelmäßiges ‘Globales Flüchtlingsforum’ wird auf Ministerialebene für alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen einberufen, ebenso für maßgebliche Interessengruppen, um deren konkrete Zusicherungen und Beiträge bezüglich der Zielsetzungen des Globalen Paktes zu verkünden“, heißt es umständlich in Punkt 17 des UN-Flüchtlingspakts. Unbesprochen bleibt bis dahin der Zuwachs an Verantwortung der Unterzeichner – zumal gerade in Deutschland eine öffentliche Debatte über die Auswirkungen des Pakts auf die künftige Flüchtlingspolitik bislang ausblieb.

Dabei dürfte gerade der deutsche Arbeitsmarkt elementar vom Vertragstext betroffen sein; und mit diesem der jetzt schon stark umkämpfte Niedriglohnsektor: Denn nicht nur im Gesundheitswesen sollen Flüchtlinge, dem Pakt entsprechend ab 2019, passiv wie aktiv, also auch als Arbeitskräfte – selbstredend „in Einklang mit nationaler Gesetzgebung und Politik“ – schrittweise mit integriert werden. Ebenso werden „Staaten und maßgebliche Interessengruppen Ressourcen und Fachwissen beisteuern, um wirtschaftliche Chancen, annehmbare Arbeit, die Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmerprogramme zu fördern“, heißt es in Paragraph 70. 

In einer Begleitschrift zum Vertragstext weist das UNHCR auf die Fülle von Vorteilen hin, die ein solches Programm birgt: „Für Flüchtlinge bedeutet dies, daß sie weniger abhängig von Hilfsleistungen sind, besser ausgestattet bei ihrer Heimkehr, wenn die Bedingungen diese erlauben, und in der Zwischenzeit Beiträge für ihre Gastgesellschaften leisten können.“

Hehre Ziele hat sich das UN-Flüchtlingshilfswerk mit seinem Pakt gesetzt, und tatsächlich erhoffen sich gerade stark belastete Länder wie Uganda und der Libanon eine deutliche Besserung ihrer derzeitigen prekären Situation.

 Hingegen laden die schwammigen Formulierungen des UN-Flüchtlingspakts Kritiker geradezu ein, auch den UNHCR-Globalpakt in Zweifel zu ziehen. Nämlich von beiden Seiten: Von jener der Hilfsorganisationen wie Amnesty International, welche darauf verweisen, daß der Vertragstext abseits von geplanten Konferenzen sowie der Öffnung von Kommunikationskanälen kaum wirksame Werkzeuge bereithält, die globalen Vorhaben des UNHCR schlußendlich umzusetzen – und sei es auch entgegen nationaler Gesetzgebungen. Und ebenso von seiten der Migrationskritiker, denen das beredsame öffentliche Schweigen über diesen Pakt als Anzeichen dient, das UNHCR könne in Versuchung geraten, auch unter Beiwirkung regionaler Regierungen, nationale Gesetzgebungen über die Parlamente hinweg auszuhebeln. Immerhin plädiert der Vertrag, der nur marginal das Thema einer Rückkehrmöglichkeit streift, für die weitestgehende Integration der Flüchtlinge in ihre jeweiligen Gastgesellschaften; unabhängig des Anerkennungsstatus ihrer Fluchtgründe. 

Westliche Minister forden mehr Solidarität

In einer gemeinsamen Erklärung begrüßten die für Migration zuständigen Minister aus Kanada, dem Vereinigten Königreich, Irland, Argentinien, Spanien und Neuseeland den Flüchtlingspakt und bekräftigen ihre Unterstützung von Flüchtlingen auf Gemeindeebene. 

Es gehe auch darum, den Druck auf die Entwicklungsländer zu lindern, in denen sich die Mehrheit der Flüchtlinge der Welt befinde. Auf diese Weise demonstrierten Umsiedlung einen Weg zu Solidarität und Verantwortungsteilung, so die Minister. Gerade ihre Regierungen konzentrierten sich darauf, wie man in Partnerschaft mit den Zivilgesellschaften mehr tun könne, um Flüchtlinge aufzunehmen. Vor allem  das Sponsoring von Flüchtlingen auf Gemeindeebene sei ein positiver Weg, um „Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in unseren Ländern zu unterstützen“. Bereits im Jahr 2018 seien Tausende von Flüchtlingen durch gemeindebasierte Flüchtlingspatenschaftsprogramme weltweit aufgenommen oder umgesiedelt worden. „Aber gemeinsam können wir mehr erreichen“, heißt es.

 www.unhcr.org/