© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Erdverwachsen und himmelwärts stürmend
Das Beste aus beiden Welten: Zur großen Retrospektive mit 150 Gemälden von Angerer dem Älteren in Neuenstadt am Kocher
Jonathan Meynrath

Im Pariser Grand Palais habe er bereits ebenso ausgestellt wie im Wiener Phantastenmuseum oder in der Königlichen Akademie zu Barcelona, erzählt Ludwig Valentin Angerer dem geladenen Publikum zu Neuenstadt am Kocher. Doch habe bisher keine der zahlreichen Werkschauen seinen Bildern in solchem Ausmaß gerecht werden können wie die jetzt bei Heilbronn gezeigte: Über 150 Gemälde hängen hier großzügig auf drei Stockwerke verteilt in einer sorgsam kuratierten Retrospektive.

Wenn Angerer, den es mit seinen Erwägungen und Bauvorhaben mitunter weit in die Zukunft zieht, von der er sich nicht weniger als eine Wiederverzauberung der Welt verspricht, heute seinen Blick in die entgegengesetzte Richtung wendet, dann fällt dieser auf 80 Lebens- und kaum weniger Schaffensjahre, in denen sich der in Bad Reichenhall geborene Bayer zunächst und insbesondere als Maler und Architekt, später zunehmend auch als Autor und Bühnenbildner jenen klingenden Namen machte, unter dem er heute bekannt ist und auf den großformatigen Plakatwänden vor dem Museum angekündigt wird: Angerer der Ältere.

Ernst wird es dem Künstler spätestens dann, wenn er von den „visuellen Wüsten“ spricht, durch die sich vor allem der urbane Mensch von heute seine täglichen Wege zu bahnen habe. Schon 1994 hatte der Maler in seiner Streitschrift „Kulturpause“ die zersiedelten Großstädte in ihrer grenzen- und formlosen Ausdehnung als „pestbeulengleich“ gebrandmarkt. Eines der jüngsten ausgestellten Werke, das den Titel „Zauber der Unschuld“ trägt und 2017 entstand, zeigt ein Mädchen, das auf seiner monumentalen Schaukel in traumwandlerischer Sicherheit über die Bedrohungen einer mechanisierten Umwelt hinwegzuschweben scheint. Dabei läßt Angerer die Grenzen zwischen moderner Architektur und „Bestienschlund“ (Benn) bewußt verschwimmen: Man vermag als Betrachter stellenweise nicht mehr mit Gewißheit zu sagen, ob unter der sorglosen Schauklerin bloß unbelebte Stahlgerippe dargestellt sind oder bereits die Rachen von metallenen Ungetümen: Auf der Skala der Gefahren, so könnte eine mögliche Botschaft des Bildes lauten, ist es für den Ästheten nur mehr ein Katzensprung vom Zahnrad zum Zähnefletschen.

Lichtquellen brechen die dunkle Grundstimmung auf

Wer die rustikalen Ausstellungsräume des Neuenstädter Museums im Schafstall abschreitet, bekommt bald eine Ahnung davon, warum der Satiriker Ephraim Kishon Angerer gegenüber einst brieflich versicherte, er könne kaum die Augen von dessen Werken lassen: Die dunkle Grundstimmung nicht weniger Bilder wird jeweils durch eine gleißende Lichtquelle als Kontrapunkt aufgebrochen, mal durch nahende Kometen, mal durch kosmische Wirbel oder lodernde Fackeln. Angerers Bilder, auf diesen Punkt bringt es der Neuenstädter Bürgermeister Norbert Heuser, leuchten gleichsam aus sich selbst heraus.

Das mag einer von vielen Gründen dafür sein, daß Ephraim Kishon mit seiner Bewunderung nicht allein blieb: Noch als Präfekt der Glaubenskongregation lobte etwa Joseph Kardinal Ratzinger die von Angerer konzipierte und im Jahr 2000 eingeweihte „Erlöserkapelle“ in Biburg im Landkreis Kelheim als „endlich wieder einmal wirkliche sakrale Kunst“, und der orthodoxe Patriarch von Rumänien beauftragte den Künstler um die Jahrtausendwende mit einer Ikonenmalerei der heiligen Paraschiva. Ein ganz eigenes Kapitel in Angerers Werkbiographie bildet auch die Verbindung zum Schriftsteller Michael Ende, der sich vom bayerischen Landsmann nach vielfältigen gemeinsamen Projekten schließlich sogar die Gestaltung seines Grabmals auf dem Münchner Waldfriedhof wünschte.

Das Entrückende und Surreale, dem der Kinderbuchautor in Erfolgsromanen wie „Momo“ oder der „Unendlichen Geschichte“ einfühlsam nachgespürt hatte und das Angerer als Bühnenbildner und Filmarchitekt preisgekrönt in Szene setzte, treibt den Maler offenkundig bis heute um: „Kosmisches Einhorn“ heißt eines der ausgestellten Bilder, andere „Kinder des Olymp“ oder „Die Welt als Labyrinth“. „Macht des Mondes“ ist ein anspielungsreiches Gemälde benannt, das 1987 einen Spiegel-Titel zierte.

Daß nicht nur dem Hamburger Nachrichtenmagazin inzwischen, sondern auch der zeitgenössischen Kunstszene längst nach Spröderem zumute ist, weiß Angerer nur allzu gut. Um so überraschter zeigt er sich von den fachkundigen Freundlichkeiten, die der Heilbronner Kunsthistoriker Bernhard Stumpfhaus seinem Werk angedeihen läßt: Akademische Flankierung sei alles andere als selbstverständlich, betont der Künstler, wenn man wie er nicht gerade zu den Hypermodernen zähle. Falls überhaupt, dann wäre Angerer wahrscheinlich am ehesten irgendwo zwischen Magischen Realisten und fortgeführtem Manierismus in der Nachfolge eines Tintoretto oder Bronzino zu verorten. Da den Maler selbst allerdings solche Verschlagwortungs- und Einordnungsversuche ebensowenig kümmern wie die im Wochentakt wechselnden Marotten des Kunstbetriebs, macht er sich zuweilen gern einen gelassenen Vierzeiler von Franz Grillparzer zu eigen: „Will unsere Zeit mich bestreiten, / Ich lasse es ruhig geschehn, / Ich komme aus anderen Zeiten / Und hoffe in andre zu gehen.“

Quellende Oasen in visuellen Wüsten

Elegant läßt der parteilose Landrat Detlef Piepenburg in seinem Grußwort sowohl weltanschauliche Grabenkämpfe als auch die unwirtlichen Höhenkämme der Kunsttheorie hinter sich, um stattdessen seiner unverstellten Intuition freien Lauf zu lassen: Wer die Neuenstädter Ausstellungsräume betrete, führt er aus, der müsse wohl unweigerlich spüren, daß die hier versammelten Werke „nicht ganz von dieser Welt“ seien.

Tatsächlich scheint die beflügelnde Strahlkraft, die Angerer in den oftmals eigenhändig angefertigten Rahmen seiner Bilder formvollendet aufleben läßt, der äußeren Welt vielerorts ebenso abhanden gekommen zu sein wie das Gefühl für Grenzen und Kontur: Während andere Künstler sich nicht selten zu Abbildnern dieses Zersplitterns berufen sehen und gesellschaftliche wie spirituelle Auflösungserscheinungen in der Malerei durch den Weg ins Abstrakte nachvollziehen, stellt der übermächtige Ungeist der Dekonstruktion für Angerer eine beinah sportive Herausforderung dar, die er dankend annimmt: Nicht zu Unrecht begreift er seine Werke als Refugien des Organischen unter mechanischer Vorherrschaft, als quellende Oasen in „visuellen Wüsten“.

Wo jenseits des Bilderrahmens Beliebigkeit um sich greift, macht Angerer darin das Unbedingte stark. Der Tendenz zur Profanierung begegnet er durch expliziten und wiederkehrenden Bezug auf das Heilige; dem Primat von Nutzbarkeit und Nivellierung widersetzt er sich, indem er immer wieder Numinoses aufs Tapet bringt: Zerborstene und dennoch Kurs haltende Geisterschiffe, verschwiegene Schwellenhüter und Fabelreiche unter Kristall-Volieren bevölkern die zu besichtigenden Gemälde.

Was sagt eine solche Bilderwelt über das Weltbild ihres Schöpfers aus? Zumindest bedarf es keines geschulten Auges, um zu erkennen, daß es Angerer nicht im Traum einfiele, mit seinen Visionen zum Arzt zu gehen. An der Leinwand wirkt das Übersinnliche ohnehin besser aufgehoben: Zumal dann, wenn es sich wie hier so verläßlich auf Sinnliches stützen kann: Angerers zum Teil verstiegen anmutende Ideen irrlichtern nie im luftleeren Raum, sondern gründen in ihrer handwerklichen Umsetzung auf dem belastbaren Fundament mühsam erworbener Fertigkeiten wie der altmeisterlichen Lasurtechnik. Vieles könnte vor Jahrhunderten gemalt worden sein – wie die „Beweinung Christi“ des Anthonis van Dyck, die von 1634 datiert und unter den anderen Bildern als Leihgabe ihren Ehrenplatz gefunden hat. 

Daß neben den eigenen Werken auch der Rubens-Schüler vertreten ist, freut Angerer besonders: Nahezu 400 Jahre trennen den flämischen Meister vom 80jährigen Bayern – und doch merkt man den benachbarten Gemälden diese Spanne weit weniger an als der Außenwelt mit ihren vergänglichen Regimen und ideologischen Wechselbädern: Schon der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt hatte in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ die staunenswerte Beständigkeit des Ästhetischen gegenüber wandelbaren ethischen Setzungen herausgestellt: „Homer und Phidias sind noch schön, während das Wahre und Gute jener Zeit nicht mehr ganz das unsrige ist.“ Mit den abgefeimten Selbstvermarktern, die diese tausendjährige Kontinuität um forcierter Originalität willen achselzuckend hinter sich lassen, möchte Angerer ausdrücklich nicht im selben Atemzug genannt werden: Den technischen Aufbrüchen der Moderne, die er keineswegs unterschiedslos verwirft, stellt er ästhetische Abbrüche gegenüber, die ihn skeptisch stimmen.

Auf Kritiker, die dem Künstler angesichts mancher nostalgischer Regung Eskapismus nachsagen, dürfte dieser Vorwurf im Zweifel selbst zurückfallen: Denn Angerer kann sich nicht zuletzt in der Tradition der deutschen Romantiker wissen, wenn er seinerseits die Erde als von Grund auf magisch und erst ihre mutwillige Entzauberung als die eigentliche Weltflucht begreift: Im lyrischen Kronjuwel und Gründungsdokument der deutschen Romantik, 1800 von Novalis verfaßt, wird ein ganzheitlicher Urzustand beschworen, der erst wiederhergestellt sei, „Wenn sich die Welt ins freye Leben / Und in die Welt wird zurückbegeben.“

So jagt Angerer im Atelier nach seiner festen Überzeugung nicht etwa tröstlichen Chimären hinterher, sondern bewegt sich zielstrebig zurück ins Eigentliche und Elementare, wenn er in Märchen und Gedichten die wahren Weltgeschichten deutlicher erkennt als in Zahlen und Figuren.

Zentrale Triebfeder auf diesem lebenslangen Heimweg ist für den bekennenden Katholiken „Die Kraft des Kreuzes“, nach der ein 2008 vollendetes Gemälde benannt ist. Andere Werke tragen ebenso sprechende Titel wie „Offenbarung des Johannes“ oder „Baum der Erkenntnis“.

Auf der Fassade des Ausstellungshauses prangt seit Wochen ein grimmiger Prometheus, dem man die Entschlossenheit anzusehen vermeint, mit welcher er das Feuer aus anderen Sphären in die menschlichen hinunterträgt. Wenn der Landrat Piepenburg über Angerers Bilder als „nicht ganz von dieser Welt“ spricht, dann heißt das im Umkehrschluß notwendigerweise, daß sie, wenn schon nicht vollständig, so doch zumindest in Teilen auch dem Diesseits angehören. In Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ erfährt man in einem der ersten Sätze über Prome-theus: „Dieser wußte wohl, daß im Erdboden der Same des Himmels schlummere.“

Vergleichbares Wissen könnte auch Angerer zumindest insofern für sich beanspruchen, als er selbst noch im Alltäglichen und Prosaischen das Phantastische nicht nur zu erblicken, sondern auch für andere sichtbar zu machen imstande ist: So ließ er sich zur labyrinthisch umfriedeten „Getriebeburg“ vom mechanischen Innenleben eines handelsüblichen Audi-Modells inspirieren oder verwob einzelne kleine §-Zeichen zum Fabelwesen „Paragraphus“. Daß dem Künstler an beiden Welten gelegen ist, am Erdverwachsenen nicht minder als am Himmelstürmenden, läßt ein Zitat Michael Endes deutlich werden, mit dem er seine andächtig aufgenommene Rede beschließt: „Denn danach suchen wir letzten Endes nur: die Poesie ins Leben zu verweben, im Leben selbst die Poesie zu finden.“

Wie sehr bei dieser Aussöhnung von Kunst und Leben das unwillkürliche Ergriffensein jedes nüchterne Begreifen überwiegt, legt ein älterer Gast der Vernissage dar, als er unumwunden bekennt, dies sei für ihn als Laien die erste Ausstellung gewesen, auf der er sich weder überansprucht gefühlt habe noch wie hinters Licht geführt. Das mag auch daher rühren, daß auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt wortreiches Verstehen oft gefragter scheint als stillschweigendes Staunen.

Statt Erklärungen winkt den Betrachtern Verklärung

Doch nicht nur bei Angerer verhält es sich umgekehrt: Auch der Schweizer Symbolist Arnold Böcklin, den der Bayer hoch verehrt und dessen legendärer „Toteninsel“ ein ausgestelltes Werk namens „Das Innere des Berges“ nachempfunden ist, tat sich schwer mit allzu hochtrabenden Betrachtern: „Ich male keine Bilderrätsel“, soll die Basler Institution einem besonders hartnäckigen Deuter einst lakonisch entgegnet haben, um für jene Ruhe und Einkehr zu sorgen, die hoher Malkunst angemessener ist als vollmundiges Fachsimpeln. Verschiedentlich hat Angerer in Schriften und Gesprächen klargestellt, daß er sein Publikum zu sehr verehre, um ihm intellektuelle Stöckchen hinzuhalten oder es mit Erklärungen abzuspeisen, wo eigentlich Verklärung winkt.

Bereits vor über zwanzig Jahren hatte er in der „Kulturpause“ zustimmend den österreichischen Journalisten Hans Habe zitiert, der eine gewisse Demut auch und gerade des schöpferischen Menschen anmahnte: „Der echte Künstler ist kein Egoist, der die Menschheit auffordert, das Rätsel seiner Seele zu entziffern.“

Daraus sollte man allerdings nicht etwa folgern, daß Angerers Bilder rätselfrei wären, ihr Sinn jeweils offen zutage liege oder sich überhaupt restlos und zweifelsfrei erschließe. Nur laden die hier ausgestellten Werke anders als Bilderrätsel eben nicht zur beiläufigen Entschlüsselung ein, sondern scheinen eher noch den Betrachter und seine Umgebung gleich mit verrätseln zu wollen, um ihr, wie es das erklärte Anliegen des Künstlers ist, mit musischen Mitteln aufs neue jenen Zauber einzuhauchen, der bei der Flucht aus der eigentlichen Welt auf der Strecke blieb.

Wie unermüdlich und virtuos Angerer der Ältere zur Erfüllung dieses eigenwilligen Anspruchs über das letzte halbe Jahrhundert hinweg auf wechselnden Betätigungsfeldern und an der Seite profilierter Gleichgesinnter gewirkt hat, davon gibt die Neuenstädter Retrospektive farbenfrohe Rechenschaft. 

Die Retrospektive „Angerer der Ältere“ ist bis zum 3. Februar 2019 im Museum im Schafstall in Neuenstadt am Kocher, Cleversulzbacher Straße 10/2, zu sehen. Öffnungszeiten: mittwochs und sonntags von 10 bis 17 Uhr sowie nach Absprache unter Telefon 0 71 39 / 39 24.  ww.museum-im-schafstall.de