© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen
Sozialismus ist unmöglich
Thorsten Polleit

Im Winter 1919 trägt Mises seine Gedanken zur Unmöglichkeit des Wirtschaftens im Sozialismus vor der Wiener Nationalökonomischen Gesellschaft vor. Die Crème de la crème der Wiener Ökonomen sitzt im Auditorium, auch namhafte Austro-Marxisten sind darunter wie zum Beispiel Max Adler (1873–1937) und Helene Bauer (1871–1942), Ehefrau von Otto Bauer (1881–1938). Anfang 1920 veröffentlicht Mises seinen Vortrag in Form eines Artikels im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 47. Band, mit dem Titel „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“. Er legt darin die wissenschaftliche Widerlegung des Sozialismus vor. Es ist eine abschließende wissenschaftliche Begründung, die offenbart, daß der Sozialismus nicht funktionieren kann. Der Sozialismus ist, so Mises, nicht nur weniger leistungsstark als eine freie Marktwirtschaft, er ist vielmehr unmöglich, er ist undurchführbar. Nicht sittliche Unreife der Menschen ist dafür verantwortlich, sondern die Tatsache, daß es im Sozialismus keine Wirtschaftsrechnung geben kann.

Zu der Zeit, als Mises seinen Beitrag veröffentlicht – kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs –, erblicken viele Intellektuelle im Sozialismus, nicht aber in der marktwirtschaftlichen Ordnung (im Kapitalismus) eine friedenstiftende und wohlstandsmehrende gesellschaftliche Organisationsform. Mises’ Artikel war folglich eine geradezu ketzerische, revolutionäre Schrift.

Was sind die Argumente, mit denen Mises die Unmöglichkeit, die Undurchführbarkeit des Sozialismus beweist? Um seine Überlegungen besser nachvollziehen zu können, bietet es sich zunächst an, den Sozialismus und den Kapitalismus zu definieren. Sozialismus bedeutet, daß die Produktionsmittel verstaatlicht, daß sie vergemeinschaftet sind. Über den Einsatz der Produktionsmittel entscheidet im Sozialismus – notwendigerweise – ein zentrales Organ (der Diktator oder ein Zentralbüro). Kapitalismus bezeichnet eine Gesellschaftsverfassung, die sich durch das Sondereigentum an den Produktionsmitteln auszeichnet. Die Produktionsmittel liegen in privater Hand, und ihre Eigentümer sind es, die über den Einsatz der Produktionsmittel befinden.

Einem isoliert wirtschaftenden Landwirt mag es durchaus möglich sein, den Nutzen abzuschätzen, den ihm das Ausweiten der Viehhaltung oder das Ausdehnen der Jagdtätigkeit stiftet. Diese Produktionswege sind für ihn überschaubar, und er wird erkennen können, ob für ihn das eine oder das andere vorteilhafter ist. Ganz anders verhält es sich bei vielstufigen, komplexen Produktionsprozessen. Wenn es zum Beispiel gilt, die Energieversorgung einer Volkswirtschaft zu verbessern – soll dazu ein Wasserlauf nutzbar gemacht werden, oder soll der Kohlenbergbau gefördert werden? Beide Tätigkeiten erfordern eine Vielzahl von Produktionsstufen beziehungsweise Produktionsumwegen: Um den Wasserlauf nutzbar zu machen, müssen zunächst einmal Bagger, Lastwagen und Arbeitskräfte bereitgestellt werden, bevor mit der Umlenkung des Wasserlaufs begonnen werden kann. Erhebliche Vorarbeiten sind ebenfalls bei einer Ausdehnung des Kohlenbergbaus nötig. Es müssen zum Beispiel Bohrer, Grubenlüfter und Fördertürme erstellt werden, bevor der Abbau beginnen kann.

Wenn es kein Privateigentum gibt, kann es auch keinen Markt geben, auf dem sich die Preise der Produktionsmittel durch Angebot und Nachfrage bilden können. Ohne Marktpreise befinden sich der Sozialplaner und die ganze Volkswirtschaft quasi im Blindflug.

Angesichts der großen Komplexität ist der einzelne Mensch nicht in der Lage, eine Antwort auf die drängenden Fragen zu geben, die sich im Zuge arbeitsteiligen Wirtschaftens stellen: „Der Geist eines Menschen allein – und sei es auch der genialste – ist zu schwach, um die Wichtigkeit eines jeden einzelnen von unendlich vielen Gütern höherer Ordnung zu erfassen. Kein einzelner kann die unendliche Fülle verschiedener Produktionsmöglichkeiten dermaßen beherrschen, daß er imstande wäre, ohne Hilfsrechnung unmittelbar evidente Werturteile zu setzen. Die Verteilung der Verfügungsgewalt über die wirtschaftlichen Güter der arbeitsteilig wirtschaftenden Sozialwirtschaft auf viele Individuen bewirkt eine Art geistiger Arbeitsteilung, ohne die Produktionsrechnung und Wirtschaft nicht möglich wären.“ (Mises: „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“, S. 103 f.) Mit der Verwendung von Geld lassen sich jedoch derart komplexe Entscheidungen in den Griff bekommen. Die Geldpreise, die sich im Markt für die einzelnen Produktionsmittel bilden, spiegeln die Wertschätzung wider, die ihnen die Marktakteure zuweisen. Mit anderen Worten: Es bedarf der Wirtschaftsrechnung mit Geld, um in einer komplexen Gesellschaft wirtschaften zu können. Ein einfaches Beispiel soll das erläutern.

Angenommen, in einer freien Marktwirtschaft kann ein Unternehmer entweder 1.000 Schuhe oder 1.000 Hosen produzieren. Welche Güter soll er herstellen? Die Antwort läßt sich schnell finden: Der Unternehmer kann den erwarteten Verkaufserlös seiner Produkte durch die Produktionskosten teilen. Auf diese Weise kann er die Rentabilität der beiden – physisch heterogenen – Produktionsalternativen miteinander vergleichen. Und das erlaubt ihm, zu entscheiden, welche Güter er produzieren soll. Beträgt zum Beispiel die Rentabilität der Schuhproduktion zehn Prozent und die der Hosenproduktion fünf Prozent, so wird er Schuhe und nicht Hosen produzieren.

Und genau diese Entscheidung liegt nicht nur in seinem eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der Nachfrager. Denn was bedeutet es, daß die Schuhproduktion rentabler ist als die Hosenproduktion? Es bedeutet, daß die Nachfrager bereit sind, einen Preis für die Schuhe zu zahlen, der im Verhältnis zum Mittelaufwand höher ist, als es bei den Hosen der Fall ist. Aus Sicht der Nachfrager ist es wichtiger, mehr Schuhe als mehr Hosen zu haben.

Die Nachfrageverhältnisse können sich im Zeitablauf natürlich auch verändern. Wenn plötzlich die Rentabilität der Hosenproduktion auf zehn Prozent steigt und die der Schuhproduktion auf fünf Prozent fällt, wird der Unternehmer fortan Hosen und nicht mehr Schuhe produzieren – und das ist sowohl im Interesse des Unternehmers als auch im Interesse der Nachfrager.

Die Marktwirtschaft – in der es Privateigentum an den Produktionsmitteln gibt und in der eine Wirtschaftsrechnung möglich ist – stellt sicher, daß Unternehmer ihre Produktion durch Rückgriff auf die Wirtschaftsrechnung an den Kundenbedürfnissen ausrichten können. Steigt ein Güterpreis, so zeigt dies, daß das Gut knapp geworden ist, und das gibt dem Unternehmer das Signal, die Produktion dieses Gutes auszuweiten. Zeigt sich im voranstehend erwähnten Beispiel, daß die Kosten, die für die Bereinigung des Wasserlaufs anfallen, nicht durch die zu erwartenden Energiepreise eingespielt werden können, so bedeutet das, daß diese Form der Energieversorgung volkswirtschaftlich nicht sinnvoll ist: Offensichtlich gibt es andere, lohnendere Verwendungen für die knappen Ressourcen.

Im Sozialismus ist die Wirtschaftsrechnung unmöglich. Hier gibt es kein Privateigentum: Alle Produktionsmittel sind verstaatlicht. Wenn es aber kein Privateigentum gibt, kann es auch keinen Markt geben, auf dem sich die Preise der Produktionsmittel durch Angebot und Nachfrage bilden können. Ohne Marktpreise aber befindet sich der Sozialplaner, und mit ihm die ganze Volkswirtschaft, quasi im Blindflug. Es ist unmöglich, eine rationale Auswahl aus der Vielzahl der Produktionsmöglichkeiten zu treffen. Ohne Wirtschaftsrechnung, die auf die Verwendung von in Geld ausgewiesenen Marktpreisen angewiesen ist, kommt es zum „geplanten Chaos“, wie Mises es später einmal bezeichnen sollte. Es ist unmöglich, die Dringlichkeit der Bedürfnisse zu erkennen und die Produktion entsprechend auszurichten. Komplexe, mehrstufige Produktionswege lassen sich nicht zielgerecht organisieren und durchführen.

Als Mises sein Argument vorbringt, daß der Sozialismus nicht durchführbar ist, stößt er auf Kritik und Widerspruch; schließlich gilt vielen der Sozialismus als Hoffnungsträger. Doch es gelingt Mises’ Widersachern nicht, seine Erkenntnisse zu widerlegen. 

Natürlich kann Geld auch im Sozialismus Verwendung finden. Dies allerdings in nur ganz bescheidenem Umfang. Geld wird im Tauschverkehr, wenn überhaupt, auf den Bereich der Konsumgüter beschränkt bleiben. Im Sozialismus spielt Geld zwar prinzipiell eine ähnliche Rolle wie im Kapitalismus, „doch die Bedeutung dieser Rolle ist in der auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung eine andere als in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden. Sie ist hier unvergleichlich geringer, weil der Tausch in dieser Gesellschaft eine viel geringere Bedeutung hat, weil er hier überhaupt nur Konsumgüter erfaßt. Da kein Produktivgut im Tauschverkehre umgesetzt wird, wird es unmöglich, Geldpreise der Produktivgüter zu erkennen. Die Rolle, die das Geld in der freien Wirtschaft auf dem Gebiete der Produktionsrechnung spielt, kann es in der sozialistischen Gemeinschaft nicht behalten. Die Wertrechnung in Geld wird hier unmöglich“. (Mises: „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“, S. 90)

Als Mises sein Argument vorbringt, daß der Sozialismus nicht durchführbar ist, stößt er auf Kritik und Widerspruch; schließlich gilt vielen der Sozialismus als Hoffnungsträger für eine bessere Welt. Doch es gelingt Mises’ Widersachern nicht, seine Erkenntnisse zu widerlegen. So fällt etwa den Sozialisten Max Adler und Helene Bauer nichts anderes ein, als darauf zu verweisen, daß in der Zukunft eine sozialistische Wirtschaftsrechnung gefunden werde, die die von Mises zu Recht aufgeworfene Problematik löse.

Doch bis heute ist sie nicht gefunden. Die Unmöglichkeit des Sozialismus, die Mises bereits 1919 erkannt hatte, wurde übrigens noch lange in Frage gestellt, gerade auch in Fachkreisen. So vertrat der keynesianisch orientierte Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1970, Paul A. Samuelson (1915–2009), noch Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in seinem weltweit verbreiteten Lehrbuch die Meinung, die Volkswirtschaften der westlichen Welt könnten durchaus noch von den Planwirtschaften des Ostblocks überflügelt werden.

Man mag einwenden, daß es noch Jahrzehnte gedauert hat, bis der Sozialismus zusammengebrochen ist – während Mises seine Unmöglichkeit und Undurchführbarkeit bereits 1919 ausrief. Darauf kann zweierlei entgegnet werden. Erstens: In den meisten Ländern des Ostblocks hat es keinen „100prozentigen Sozialismus“ gegeben. Es gab zumeist „Ausnahmeregelungen“, sei es in Form von begrenztem Eigentum (etwa am eigenen Wohnhaus) oder kleinen, eigengenutzten landwirtschaftlichen Nutzflächen. Das hat die zerstörerischen Kräfte des Sozialismus gemildert und seinen Verfall verzögert. 

Zweitens: Die sozialistischen Volkswirtschaften sahen sich mehr oder weniger marktwirtschaftlichen Volkswirtschaften gegenüber. So konnten sie sich im Zuge des Außenhandels dringend benötigte Güter besorgen, die sie, auf sich allein gestellt, nicht hätten produzieren können. Auch wurden sie dadurch in die Lage versetzt, die Marktpreise (für beispielsweise Energie, Agrarprodukte und andere Rohstoffe) auf den Weltmärkten für ihre eigenen Planrechnungen zu nutzen. 

Isoliert und auf sich allein gestellt, wären die sozialistischen Regime früher zusammengebrochen – weil, wie Mises früh erkannt hatte, im Sozialismus eine Wirtschaftsrechnung unmöglich ist.






Prof. Dr. Thorsten Polleit, Jahrgang 1967, ist seit 2012 als Chefvolkswirt für die Degussa tätig. Seit September 2014 lehrt er als Honorarprofessor an der Universität Bayreuth. Er ist Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute in Auburn (Alabama), Präsident des Ludwig-von-Mises-Instituts Deutschland und Partner der Polleit & Riechert Investment Management LLP.

Thorsten Polleit: Ludwig von Mises für jedermann. Der kompromißlose Liberale. Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt am Main 2018, broschiert, 272 Seiten, 17,90 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – ein Auszug aus dem Buch.

Foto: Arbeitsplatz im „VEB Schuhkombinat Weißenfels“: Schuhe produzieren oder Hosen? Im Sozialismus ist wegen der verstaatlichten Produktionsmittel die Wirtschaftsrechnung unmöglich. Ohne flexible Steuerung der Produktion durch Marktpreise kommt es unausweichlich zu Fehlinvestitionen und Mangelwirtschaft