© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Von Black Power zu Black Paranoia
In den USA wird die Deutungshoheit über die Rassenproblematik zunehmend afroamerikanischen Intellektuellen überlassen
Siegfried Gerlich

Es scheint eine gesteigerte Sensibilität der US-amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber dem chronischen Übel des Rassismus anzuzeigen, daß intellektuelle Wortführer der Schwarzen inzwischen nicht mehr nur große Aufmerksamkeit erregen, sondern mit nahezu ungeteiltem Beifall rechnen dürfen. Neuere politische Bücher aus schwarzer Feder erwecken jedoch eher den Eindruck, als würde bereits das satirische Nachspiel zu dieser nicht enden wollenden amerikanischen Tragödie aufgeführt. 

Der derzeit wohl prominenteste afroamerikanische Publizist, Ta-Nehisi Coates, demonstrierte bereits mit seinem Bestseller „Zwischen mir und der Welt“, wie „schwarze“ Pädagogik heute aussieht. In diesem autobiographisch ausgestalteten Brief an seinen Sohn Samori bereitete Coates den 15jährigen mit Wut und Bitterkeit darauf vor, daß das weiße Amerika für schwarze Menschen eh keinen anderen Platz als das Gefängnis vorgesehen habe. Niemand kann sagen, wie oft sich diese trostlose Botschaft schwarzer Väter schon als selbsterfüllende Prophezeiung erwiesen hat, aber mittlerweile dürfte sich herumgesprochen haben, daß schwarze Kinder, die zu Lebenstüchtigkeit und Selbstverantwortung erzogen werden, weit häufiger aus dem Ghetto herausfinden und auch wesentlich seltener hinter Gittern landen. Das kulturelle Establishment der USA indessen spendete Coates’ Erziehungsprogramm ein so überschwengliches Lob, daß er die weiße Welt nicht mehr verstand und über diesen Beifall von der falschen Seite sogar verstimmt war: „Warum mögen weiße Menschen, was ich schreibe? Wie soll man einer Macht trotzen, die einen hartnäckig vereinnahmt?“ 

Trump als Synonym für das gefährliche „Weißsein“ 

Immerhin wurde auch Coates als uneheliches Ghetto-Kind geboren, flog später mehrfach von der Schule und brach sein College-Studium ab, bevor er sich schließlich zu einem gefeierten Autor emporschrieb, den sein unverhoffter Ruhm beinahe zu beschämen scheint. Ein tiefer Argwohn gegenüber schwarzen Erfolgsgeschichten durchzieht denn auch sein politisches Tagebuch „We were Eight Years in Power“, welches die Jahre der Präsidentschaft Barack Obamas aufmerksam begleitet und dabei allerlei gemischte Gefühle preisgibt, die so viele Schwarze dem ersten schwarzen US-Präsidenten entgegenbrachten: Manchen war er schon wegen seiner weißen Mutter nicht schwarz genug, und für andere verkörperte Obama, der es gelassen verschmähte, immerzu die Rassenkarte auszuspielen, bloß weiße Macht mit einem schwarzen Antlitz. Ein einziges Mal kann Coates sich jedoch zu einer staunenden Bewunderung für diesen Präsidenten durchringen, die ihn an seinem eigenen Mißtrauen zweifeln läßt: „Was Obama dem weißen Amerika anbot, war etwas, das nur sehr wenige Afroamerikaner anbieten können – Vertrauen. Die Mehrheit von uns ist aufgrund unserer Verteidigungsmechanismen viel zu verkrüppelt, um so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen.“ 

Wie tief diese „Verkrüppelung“ auch bei Coates reicht, scheint ihm selber nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 aufgegangen zu sein, als er die „Ruinen von Amerika“ und die „lächerlichen Flaggenumzüge“ nur noch „mit kaltem Herzen“ betrachten konnte. Allerdings war wenige Tage zuvor ein ehemaliger Schulfreund von einem, wenn auch schwarzen, Polizisten erschossen worden, und danach konnte Coates „keinen Unterschied mehr erkennen zwischen dem Polizisten, der Prince Jones getötet hat, und den Polizisten und Feuerwehrmännern, die gestorben waren“. Auch für diese mutigen Retter, die ihm „nicht mehr menschlich“ erschienen, empfand er daher „kein Mitleid“, sondern vielmehr etwas, „das an Haß grenzte“. Vollends nach dem Wahlsieg Donald Trumps, der ihm das „Weißsein“ als „existentielle Gefahr für das Land und die Welt“ vor Augen führte, trat Coates den fatalistischen Rückzug in eine paranoide Parallelwelt an: „Das ‘weiße Amerika’ ist ein Syndikat, errichtet zum Schutz ihrer exklusiven Macht, unsere Körper zu beherrschen und zu kontrollieren.“ 

Todesschüsse auf schwarze Jugendliche riefen 2012 auch die „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM) ins Leben, und so überrascht es nicht, daß Patrisse Khan-Cullors ihrem gleichnamigen Buch den Untertitel „Eine Geschichte vom Überleben“ gegeben hat, denn ein unbefangenes „Leben“ scheint Schwarzen nicht vergönnt zu sein in einem Land, wo sie nur „atmen“ müßten, „um eingesperrt zu werden – oder sogar Schlimmeres zu erleben“. Darin erschöpft sich aber auch schon die ganze Weisheit dieser autobiographischen Bekenntnisschrift, in der man mehr über die sexuelle Orientierung und den queeren Bindungsstil der lebenshungrigen Autorin erfährt als über die von ihr mitbegründete BLM-Bewegung selbst. Was wiederum deren ersten Märtyrer betrifft, so hält Khan-Cullors tapfer an der Legende fest, der junge Trayvon Martin sei von dem hispanischen Nachbarschaftswachmann George Zimmerman „kaltblütig erschossen“ worden, obwohl vollkommen unstrittig ist, daß dieser bereits blutig geschlagen am Boden lag, als er aus Notwehr den tödlichen Schuß abgab. 

Über den erschreckenden Realitätsverlust der BLM-Propaganda kann Edward S. Rubensteins Metastudie „The Color of Crime“ belehren, welche neuere regierungsamtliche Kriminalstatistiken ausgewertet hat: So belief sich 2015 der Anteil von „Police Killings“ zum Opfer gefallenen unbewaffneten Schwarzen auf lediglich 0,6 Prozent aller durch Gewalt zu Tode gekommenen Schwarzen, wohingegen ganze 93 Prozent von diesen von Schwarzen in den Tod befördert wurden. Anstatt aber die „Black Lives Matter“-Parole zuallererst an schwarze Gangs zu adressieren, behauptet Khan-Cullors wider alle Logik, die eine Gleichstellung der Opfer anmahnende Gegenparole „All Lives Matter“ würde „unsere Stimmen und Proteste für Gleichheit abqualifizieren“. 

Ebenso parteiisch, aber wissenschaftlich ambitionierter arbeitet sich Michelle Alexander in ihrem Buch „The New Jim Crow“ an den Reizthemen Polizeigewalt und Verhaftungswillkür ab. Dabei nimmt die engagierte Juristin mit der seit Jahrzehnten betriebenen Politik der Masseninhaftierung von Schwarzen zugleich die Rolle ins Visier, die „das Strafjustizsystem bei der Erhaltung der Rassenhierarchie in den Vereinigten Staaten“ spiele. Es ist nun keine Neuigkeit, daß die USA die höchste Inhaftierungsrate der Welt aufweisen, und wohlbekannt ist auch, daß der seit der Präsidentschaft Reagans mit aller Härte geführte „War on Drugs“ hauptsächlich Schwarze getroffen hat. 

US-Gefängniskomplex als „rassistisches Kastensystem“

Aber gerade darum versucht Alexander den US-amerikanischen Gefängnis- und Justizkomplex im ganzen als ein „rassistisches Kastensystem in der Ära der Farbenblindheit“ zu entlarven, und erwartungsgemäß blendet sie hierbei die schwarze Gewaltkriminalität weitgehend aus, denn schon bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität fällt es ihr eingestandermaßen schwer, ein echtes „Racial Profiling“ nachzuweisen. Im übrigen vermeidet die Autorin jeden Blick hinter die Gefängnismauern, wo bei den zahllosen „Prison Rapes“ weiße Häftlinge für schwarze und hispanische Gangs die prädestinierten Opfer sind. Daß die scharfe Anklageschrift der Juristin dennoch bereits als „säkulare Bibel einer neuen sozialen Bewegung“ gehandelt wird, wie das Vorwort stolz vermeldet, hängt freilich auch damit zusammen, daß einem „Advokaten der Weißen“ wie Jared Taylor von der vierten Gewalt schlicht kein Gehör geschenkt wird. 

Einen ähnlich zwiespältigen Eindruck hinterläßt Ibram X. Kendis umfängliches Werk „Gebrandmarkt“, in dem der Rassismusforscher nicht weniger als die „wahre Geschichte des Rassismus in Amerika“ zu erzählen verspricht. Und wirklich entwirft Kendi ein originelles multiperspektivisches Panorama der US-amerikanischen Rassenkonflikte, indem er die einzelnen Buchkapitel um epochale Leitfiguren wie Thomas Jefferson, W. E. B. Du Bois und Angela Davis kreisen läßt. Um so bedauerlicher ist es, daß der Autor seine empirisch so reichhaltige Geschichtserzählung in den doktrinär verengten Theorierahmen eines radikalen „Antirassismus“ gepreßt hat. 

Als „rassistisch“ kennzeichnet Kendi nämlich nicht nur die „segregationistische“ Auffassung, daß die Rassen von Natur aus unterschiedlich seien und folglich auch in Gesellschaft nicht zusammenleben könnten, sondern ebenso die „assimilatorische“ Einstellung der moderaten Bürgerrechtsbewegungen, welche die rein soziologisch interpretierten Ungleichheiten zwischen Schwarzen und Weißen durch Bildung und Erziehung beseitigen wollten. Denn noch das wohlmeinende Ansinnen, etwa die weiterhin virulente Gewaltkultur der schwarzen Unterschicht mit anhaltender Diskriminierung zu erklären, bestätige schließlich deren beschämendes Vorhandensein. Kendis verstiegene Behauptung, alle Vorstellungen „von gefährlichen schwarzen Vierteln“ beruhten einzig „auf rassistischen Ideen, nicht auf der Realität“, läßt sich wohl nur als wütende Abwehr dieser Scham deuten. Und dieselbe Wut dürfte am Ende auch in seiner überreizten Forderung nach einer vollständigen Abschaffung der Institution Gefängnis zum Ausdruck kommen. 

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt. Hanser Verlag, Berlin 2016, gebunden, 240 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

Ta-Nehisi Coates: We were Eight Years in Power. Eine amerikanische Tragödie. Hanser Verlag, Berlin 2018, gebunden, 416 Seiten, 25 Euro

Patrisse Khan-Cullors: #BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, gebunden, 288 Seiten, 20 Euro

Michelle Alexander: The New Jim Crow. Masseninhaftierung und Rassismus in den USA. Verlag Antje Kunstmann, München 2016, gebunden 352 Seiten, 24 Euro

Ibram X. Kendi: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika. Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 604 Seiten, 34 Euro