© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

„Warum soll mein Dorf die Welt retten?“
Frankreich: Gelbwesten – eine Bewegung ohne Struktur aus der Tiefe der Volksseele
Jürgen Liminski

Der Benzinpreis ist der Brotpreis von heute. Das Auto ist für den Franzosen in der Provinz das Symbol der Freiheit. Er ist wegen der hohen Miet- und Grundstückspreise aufs Land gezogen mit seiner Familie, jeder zweite in dem großen Flächenstaat wohnt heute in einer Stadt mit weniger als 10.000 Einwohnern, die meisten davon in kleinen Dörfern und Ortschaften. Wer zum Arzt will, seine Kinder zur weiterführenden Schule bringen oder ins Krankenhaus muß, der steigt ins Auto. Es geht nicht ohne. 

Die Spaltung des Landes ist noch größer geworden

Die Regierungen haben jahrelang gepredigt, der Diesel sei sauber, also kaufte man einen Diesel. Jetzt ist er auf einmal Teufelswerk, in Paris setzt man auf den ökologischen Übergang. Windräder sind in, die die Landschaft verschandeln und die Aussicht stören, Elektroautos sollen her und irgendwann auch die Atommeiler vom Netz. Der kleine Angestellte, der Rentner, Arbeiter, Bauer und Fischer, Monsieur Dupont versteht die Welt nicht mehr. Warum soll sein Dorf die Welt retten? Und warum soll er diese Rettung bezahlen?

 Wie kommen die Politiker, die in Paris für 200 Euro im Schnitt zu Mittag essen – den Wein nicht inklusive, wie Haushaltsminister Gerald Darmanian meinte – und durch die Welt fliegend mehr die Umwelt verpesten als das ganze Dorf und die Nachbardörfer, dazu, dem Durchschnittsfranzosen zu erzählen, seine Kaufkraft habe sich erhöht, obwohl jeder mehr denn je damit kämpft, das Monatsende zu überbrücken?  

Die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen reich und prekär, zwischen Tradition und Moderne, zwischen nationaler Identität und supranationaler Statistik, diese Kluft wird zum Abgrund.

 Monsieur Dupont versteht die Welt von Macron nicht mehr. Deshalb zog er sich eine gelbe Warnweste an, so wie vor gut dreißig Jahren die Bretonen eine rote Mütze und wie vor 90 Jahren die Bauern ein grünes Hemd, um gegen zu hohe Steuern zu protestieren. Aber etwas ist anders beim Protest der Gelbwesten. Konnte man bei den „Bonnets rouges“ noch von einem gerüttelt Maß an Asterix-Reflex reden, ist diesmal das Maß wirklich voll. 

Frankreich ist das Land mit den höchsten Sozialabgaben, mehr als eine Billion Euro pro Jahr, allein seit 2002 sind die Abgaben um 370 Milliarden Euro gestiegen, am schlimmsten unter Chirac (150 Milliarden) und Hollande (125 Milliarden). Die Versprechen Emmanuel Macrons, die Spaltung des Landes in links und rechts zu überwinden und die Kaufkraft wieder zu erhöhen, werden nicht eingehalten. Im Gegenteil, der Benzinpreis macht alle anderen Maßnahmen zunichte, und die Spaltungen haben sich vervielfacht, nicht zuletzt durch den neuen Kurs des „ökologischen Übergangs“.

Der Protest der Gelbwesten ist eine Rebellion des Volkes. Es sind nicht die Bewohner der Banlieues, die Autobahnen und Umgehungsstraßen sperren, es sind keine professionellen Krawallmacher und Anarchisten, die die Mautstellen besetzen und Autofahrer mit gelben Westen auf dem Armaturenbrett durchwinken, es sind die normalen Bürger, die ihr Land und die Lebensart lieben. Umfragen haben ergeben, daß siebzig bis achtzig Prozent der Bevölkerung die Bewegung der Gelbwesten unterstützen.

 Diese normalen Bürger können nicht ständig protestieren, sie müssen arbeiten. Viele leben von weniger als 1.000 Euro im Monat. An den Blockaden stehen auffällig viele Rentner, vor allem an den Wochentagen. Der Protest wird seine Höhepunkte an den Wochenenden erleben. Es ist ein spontaner, im Netz zusammengerufener Protest, lokal gestreut über das Land. Eine Organisation ist schwierig, selbst die acht Sprecher, die am Montag an den Brennpunkten der Bewegung gewählt wurden, können nicht behaupten, sie seien repräsentativ. Spontan, lokal, unorganisiert – die Folgen und nähere Zukunft der Bewegung sind unabsehbar. 

Die Regierung will die acht Sprecher nicht empfangen. Das wird die Wut steigern. Macrons Versuch, die Gemüter zu beschwichtigen und dennoch Kurs zu halten, ist eine Fahrt im Nebel. Einerseits will er in der EU Musterschüler sein und damit seinen Führungsanspruch untermauern, andererseits kann er ohne Volk seine Reformen nicht verwirklichen. Seine herablassende Art, mit den Menschen zu reden, hat ihm schon Anfang des Monats auf seiner einwöchigen Reise durch die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs viel Mißmut entgegenschlagen lassen. 

Seine engsten Mitarbeiter, Haushaltsminister Darmanian und Innenminister Christophe Castaner, beleidigen die Gelbwesten mit Bezeichnungen wie „braune Pest“ und dürften von Macron erst mal einen Maulkorb verpaßt bekommen haben. 

Macron selber will die Benzinpreise „floaten“ lassen, das heißt alle drei Monate dem Auf und Ab auf dem Markt steuerlich folgen. De facto ist das ein Moratorium der Preiserhöhung. Auch er sagt, er habe das Volk gehört und verstanden. Die gewalttätigen Ausschreitungen in Paris am vergangenen Wochenende seien inakzeptabel, was auch die Meinung der meisten Gelbwesten ist. Aber der Kurs in der Energie- und Umweltpolitik bleibe, bis 2035 solle der Anteil der Nuklearenergie auf 50 Prozent gesenkt werden und ein Hoher Rat für die Klimapolitik solle regelmäßig Bericht erstatten. Ein Reformprogramm mit dem Volk hat Macron nicht verkündet, und der Benzinpreis sinkt vorerst auch nicht.