© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Zwischen Blockade und Provokation
Konflikt Ukraine/Rußland: Nach Donbass und Krim bietet nun der Zugang zum Asowschen Meer Zündstoff für bilaterale Scharmützel
Marc Zoellner

Der Ausbruch der Gewalt ließ nicht lange auf sich warten: Trotz verschärfter Sicherheitsvorkehrungen war es in der Nacht zum Montag Dutzenden ukrainischen Protestlern gelungen, zum Tor des russischen Botschaftsgeländes in Kiew vorzudringen. Sie errichteten  Blockaden, lieferten sich Rangeleien mit ukrainischen Polizisten und warfen Molotowcocktails auf die Botschaft. 

Die ohnehin schon angespannten bilateralen Beziehungen zwischen Kiew und Moskau könnten kaum angespannter sein: Im Osten der Ukraine kämpfen russische Freischärler zusammen mit einheimischen Rebellen gewaltsam für die Unabhängigkeit der Donbass-Provinz vom Mutterland. Dazu beschuldigt Kiew Moskau massiver Menschenrechtsverletzungen auf der Krim. Über fünfzig ukrainische Staatsbürger, erklärte das Kiewer Parlament jüngst, säßen noch immer in Haft im Gefängnis der Hafenstadt Sewastopol; unter ihnen ein Großteil der politischen Führerschaft der autochthonen Krimtataren, denen die russische Staatsanwaltschaft „Aufruhr und Sabotage“ vorwirft.

Bezüglich der Zugangsrechte zum Asowschen Meer, einem Binnengewässer im Süden der Ukraine und Rußlands, und mit dem Schwarzen Meer durch die Meerenge von Kertsch verbunden, eskalierte Sonntag ein dritter Streitpunkt.

Seit der Annexion der Halbinsel Krim im Frühling 2014, so der österreichische Ukraine-Experte Christian Ferdinand Wehrschütz, kontrolliere Rußland den Zugang zum Asowschen Meer völlig und verzögere die Abfertigung von Schiffen massiv, die die beiden ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk anlaufen wollten. Laut Wehrschütz betrug die Stehzeit im Oktober im Durchschnitt mehr als drei Tage. Moskau habe die Kontrollen mit dem Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt, doch betroffen davon seien nur Schiffe gewesen, die ukrainische Häfen anlaufen wollten.  

Zum Zweck der routinemäßigen Verlegung vom Schwarzmeerhafen Odessa zum Asowschen Hafen in Mariupol hatte eine kleine ukrainische Flotte von zwei Kanonenbooten und einem Schlepper die Passage über die Straße von Kertsch, ersucht. Die Durchfahrt bei den Kertscher Behörden ordnungsgemäß eingegeben zu haben, behauptet die Kiewer Regierung. In Kertsch jedoch, entgegnen russische Behörden, sei keine Anmeldung eingegangen.

In einem anschließenden, von der russischen Küstenwache ausgehenden Schußwechsel erlitten sechs ukrainische Marinesoldaten leichte Verletzungen. Sämtliche dreißig Mann Besatzung wurden in Kertsch interniert; die drei Boote vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB beschlagnahmt. Von einer „gefährlichen Provokation“ durch die Ukraine sprach am Montag Dmitry Peskov, Pressebevollmächtigter Wladimir Putins. Die ukrainische Seite wiederum insistierte auf der sofortigen Freilassung ihrer Soldaten.

Am gleichen Tag ordnete die Kiewer Regierung die allgemeine Mobilmachung an. Am Dienstag verhängte Kiew das  Kriegsrecht. Nach einem Treffen mit ukrainischen Diplomaten versicherte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die „volle Unterstützung“ des Verteidigungsbündnisses „für die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine, einschließlich ihrer vollen Navigationsrechte in ihren territoriellen Gewässern unter internationalem Recht“.

„Die Straße von Kertsch war nie international im Sinne der UN-Seerechtskonvention“, hält Moskaus Außenministerium dagegen und warnt die Ukraine „vor völkerrechtswidrigen Versuchen, den aktuellen Status des Asowschen Meeres als Binnengewässer beider Länder zu revidieren.“