© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Aufstieg und tiefer Fall des Carlos Ghosn
Autoindustrie: Der Chef der Renault-Nissan-Allianz in japanischer U-Haft / Ein politisches Komplott?
Albrecht Rothacher

Eine U-Haft in Japan ist hart. Bis zu 14 Tage kann ein Verdächtiger ohne Kontakt zum Verteidiger in einer ungeheizten fensterlosen Zelle ohne Mobiliar eingesperrt werden. Danach kann die Haft nötigenfalls jahrelang verlängert werden. Es gibt Tee und Misosuppe zum Frühstück und tagsüber zweimal Reis mit Trockenfisch. Außer Verhören zu jeder Tages- und Nachtzeit gibt es keine Abwechslung. Während der Haft versucht die Staatsanwaltschaft mit Zuckerbrot und Peitsche ein umfassendes Geständnis zu erreichen.

Die Unschuldsvermutung gilt nicht, denn Fehler gibt es bei der ermittelnden Polizei offiziell nicht. Ein Unterschied zwischen Berufsverbrechern, ausländischen Drogenschmugglern, gestrauchelten Politikern und anderen Promis wird nicht gemacht. Alle sind vor dem Gesetz als Sünder quasi gleiches Ungeziefer. Als Ergebnis ihrer fast immer auf Geständnissen beruhenden Anklagen hat die japanische Justiz eine Verurteilungsquote von über 95 Prozent. Das einzige, was den Angeklagten retten kann, ist vor den Richtern tätige Reue zu beweisen.

Der charismatischste Automanager der Gegenwart

Carlos Ghosn ist vorige Woche aus lichten Höhen tief gefallen – in die Fänge dieses Justizsystems. Am Flughafen Tokio-Haneda im Firmenjet aus Beirut ankommend war er überraschend verhaftet worden. Der erfolgreichste und charismatischste Automanager der Gegenwart wurde 1954 als Kind einer christlich-libanesischen Unternehmerfamilie in Porto Velho, der Hauptstadt der innerbrasilianischen Regenwaldprovinz Rondônia, geboren. Die Schulzeit verbrachte er im Libanon. An französischen Eliteakademien ausgebildet, heuerte der Ingenieur 1978 beim Reifenhersteller Michelin an und stieg zum Chef der Amerika-Niederlassungen auf.

Als ihm dieser Familienbetrieb eine Spitzenstellung verweigerte, wechselte er 1996 zum teilstaatlichen Renault-Konzern, der ihn vor 20 Jahren nach Japan schickte. Nissan – zweitgrößter Autobauer im Land der aufgehenden Sonne und von Renault zu 43 Prozent  übernommen – war überschuldet und stand kurz vor der Pleite. Ghosn drückte ruchlos die Preise und Konditionen der Autozulieferer, straffte die Produktionsabläufe und die Hierarchien. Das Produktionsprogramm wurde von Verlustträgern befreit, langgediente, aber unproduktive Bürokraten in der Firmenverwaltung wurden entlassen. Das Marketingpersonal wurde nun nach Verkaufserfolgen bezahlt, nicht nach abgesessenen Arbeitsstunden – unerhört im konsensverliebten Japan, in der Seniorität und Firmentreue zählen. Als Retter von Nissan und mit seinen Brutal-Methoden bekam Ghosn bald Kult-Status, den er mit inszenierten Auftritten als Napoleon-Imitat pflegte.

2005 wurde er beauftragt, den Mutterkonzern Renault zu sanieren. Dieses zweite Wunder gelang dem „Cost-Cutter“ ebenso wie ein drittes: die neue franko-japanische Automobilgruppe fast zwei Jahrzehnte lang erfolgreich zu führen. Obwohl Renault und Nissan nur in seiner Person in den Verwaltungsräten vereint waren, ermöglichte die Allianz große Synergieeffekte bei Entwicklung, Herstellung und Einkauf. Es gibt gemeinsame Plattformen: So ist das meistverkaufte SUV der Welt der Nissan X-Trail (2017: 814.496 Stück) – vor dem Toyota Rav4 und dem VW Tiguan. In den USA als Nissan Rogue verkauft wird der X-Trail – mit Retouchen – auch als Renault Koleos II bzw. Samsung QM6 angeboten. Der notleidende Autohersteller Mitsubishi Motors wurde saniert. Beim Lada-Hersteller AwtoWAS in Rußland gibt es Modernisierungen und Gemeinschaftsfertigungen (JF 43/18). Eine dreiprozentige gegenseitige Beteiligung mit Daimler hat dazu geführt, daß der Pickup Nissan Navara in Barcelona mit einigen Änderungen auch als Mercedes X-Klasse und Renault Alaskan vom Band rollt. Der Mercedes Citan ist ein „badge-engineered“ Renault Kangoo.

Amerikanische Gehaltsvorstellungen?

Ghosn gelang anscheinend mühelos eine Autoallianz mit völlig verschiedenen Firmenkulturen, an denen Martin Winterkorn (VW und Suzuki) oder Jürgen Schrempp (Daimler/Chrysler/Mitsubishi) zuvor grandios gescheitert waren. Mit 10,6 Millionen Fahrzeugen wurde die Allianz Nissan-Renault-Mitsubishi 2017 zusammengerechnet – vor der Volkswagen-Gruppe und Toyota – zum weltgrößten Autohersteller.

Mit seinen Erfolgen verlor Ghosn die Bodenhaftung und hielt sich für unantastbar. Seiner Schwester schob er einen lukrativen Nissan-Beratervertrag zu, für den sie keine nachweislichen Leistungen erbrachte. Seine zweite Hochzeit feierte Ghosn 2016 königlich im Schloß Versailles. Für seine Vorstandsposten bezog er bei Renault sieben Millionen Euro im Jahr und bei Nissan 8,3 Millionen. Für die USA eher unterbezahlt, sind das in Frankreich wie Japan unvorstellbare Spitzengehälter. Mit dem einstigen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der ihm das Salär kürzen wollte, legte er sich öffentlich an – und gewann, obwohl der französische Staat 15 Prozent  an Renault hält.

Den Diesel-Skandal lächelte Ghosn kalt weg, obwohl auch bei Renaults die Meßwerte nicht immer stimmten. Ghosn wurde nun seine Habgier zum Verhängnis: Heimlich hatte er sich fünf Jahre lang von Nissan zusätzlich 40 Millionen Euro zahlen lassen sowie 36 Millionen Dollar an Aktienoptionen verscherbelt. Über eine Nissan-Tochterfirma ließ er sich Villen an der Copacabana bei Rio de Janeiro und im noblen Altstadtviertel von Beirut finanzieren. Für 17,7 Millionen Euro gäbe es in West Palm Beach (Florida) zwar nur schlichte Häuser ohne direkten Strandzugang – aber die heimlichen Gelder sollen auch über das britische Geldwäscheparadies Virgin Islands geflossen sein.

Von seinen Vorstandsposten wurde Ghosn inzwischen wegen Untreue und Verstößen gegen Aktiengesetze fristlos entbunden. Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire schickt ihm jetzt auch noch die nationale Steuerfahndung an den Hals. Auf die Nachricht seiner Verhaftung fielen die Aktien der Konzerne in zweistelliger Höhe. Wie alle Autokraten hatte er potentielle Nachfolger vergrault. Ob die hochprofitable Allianz überleben wird, ist ungewiß.

Renault mit seiner Börsenkapitalisierung von 19 Milliarden Euro hält als weniger profitabler Partner 43,4 Prozent der Anteile und Stimmrechte an dem gewinnträchtigeren Nissan-Konzern, der 31 Milliarden Euro wert ist und nur 15 Prozent der Aktien von Renault ohne Stimmrechte hält. Schlüsselstellungen wurden von Franzosen besetzt, ähnlich wie dies Opel derzeit von Peugeot widerfährt. So ist der Aufstieg und Fall des Carlos Ghosn auch die Geschichte eines Kosmopoliten, ohne nationale Loyalität, ohne Anstand und ohne Ethik, dessen globalistisches Lebenswerk nach seinem Abgang mutmaßlich scheitern wird.

 newsroom.nissan-global.com

Produktionszahlen der Autohersteller:  www.oica.net/