© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Pankraz,
Archie Brown und die Angst vor Führern

Das Buch erschien im englischen Original schon vor vier Jahren, seine deutsche Übersetzung im März 2018, und es wurde damals auch ausführlich und sachkundig besprochen. Sein Autor, Archie Brown (80), ist schließlich nicht irgendwer. Der langjährige Oxforder Ordinarius für Politische Wissenschaften gilt vielerorts als exzellenter Vertreter, ja als Führer seines Faches, auf dessen Urteil man sich verlasen kann  (Archie Brown: Der Mythos vom starken Führer. Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert, Propyläen Verlag 2018, gebunden, 480 Seiten,  25 Euro).

Zur Zeit erscheinen plötzlich wieder Rezensionen zu Browns „Mythos“, zum Beispiel  die von Marian Nebelin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Beinahe sieht es aus, als wolle man sich wappnen gegen neue „starke Führer“, die uns angeblich endlich aus der gegenwärtigen Politik-Misere herausführen würden. In Wirklichkeit, so der unüberhörbare ständige Unterton (unter falscher Berufung auf Archie Brown), gibt es in der Politik gar keine starke Führung, sie ist nur ein Mythos, und zwar ein gefährlicher, der lediglich Rechtsbruch und nackte Gewalt kaschieren soll.

Mit dem wahren Archie Brown haben solche Reden nichts zu tun. Es geht in seinem Buch  nicht um grausame Gewaltpolitiker à la Stalin oder Hitler, nicht einmal primär um sogenannte „autoritäre“ Führergestalten, sein Thema sind die Präsidenten oder Kanzler in demokratisch verfaßten Rechtsstaaten, Leute wie Adenauer, Willy Brandt, Charles de Gaulle, Margaret Thatcher … Clement Attlee, so lesen wir bei ihm, sei bescheiden gewesen, ein echter „Team-Player“, aber er habe als Labour-Premier Großbritannien umgekrempelt wie niemand vor ihm und gewiß mehr als sein Labour-Nachfolger, der führungsbegierige und äußerst beredte Tony Blair.


Will sagen: Natürlich gibt es starke Führergestalten in jeder Politik, aber ihre Qualität, ihre wahre Größe offenbart sich nicht in ihrem persönlichen Auftreten, sondern in der Effizienz der von ihnen inspirierten und verantworteten Entscheidungen. Es ist wohl richtig: Gute Führer benötigen, besonders unter demokratischen Verhältnissen, ein „Charisma“, eine persönliche Ausstrahlung, die Vertrauen und Begeisterung, Folgelust und fast so etwas wie Liebe erweckt, doch alles Vertrauen und jede Liebe können enttäuscht werden und abrupt in ihr Gegenteil umschlagen, umd eben das geschieht, wenn der Erfolg ausbleibt.

Es gibt in der Politik keinen Entschuldigungsspruch gescheiterter Charismatiker, „Aber ich habe es doch so gut gemeint!“ Archie Brown zeigt in seinem Buch, findet Pankraz, unwiderleglich: Wichtiger als jedes Charisma sind für führende Politiker ein sicheres Gefühl für reale Machtkonstellationen und genaue Risikoabschätzung bei Entscheidungen. Zur Entscheidungsfindung benötigen sie selbstverständlich gute Berater, doch wenn es schiefgeht, nützen ihnen auch diese nichts. Die Veranwortung trägt – zu Recht übrigens – stets die jeweilige Nummer eins.

Im gegenwärtigen Deutschland, vor allem in den Medien, wird oft suggeriert, es gebe hierzulande gar keine politische Nummer eins mehr, und das sei gut so. Alle wichtigen Entscheidungen würden unmittelbar  vom Bundestag, dem gewählten Parlament, gefällt, und die „Exekutive“ (in der klassischen Politologie immerhin die erstgenannte, völlig gleichberechtigte Kerninstanz neben Legislative und Justiz) sei nichts weiter als ein bürokratisches Ausführungsorgan der Legislative ohne jede eigene Machtbefugnis. Ein Auftreten von „starken Führern“ sei damit von vornherein unterbunden.

Bundeskanzlerin Merkel, eine gelernte Physikerin, hat  durch ihre lange Jahre geübte Rhetorik – mag sein, ungewollt – zur Ausbreitung dieses Mißverständnisses kräftig beigetragen. Ihre Rede von der angeblichen „Alternativlosigkeit“, angesichts deren sie ihre Entscheidungen treffe, und ihr auffällig langes Warten bei fälligen Entscheidungen erzeugten den Eindruck, sie betrachte sich selbst tatsächlich bloß als willenloses Vollzugorgan höherer Kräfte, und die meisten, die das hörten und sahen, dachten dabei verständlicherweise nicht an die Physik, sondern an den Bundestag, nicht zuletzt die Bundestagsabgeordneten selbst.


Auch die Unklarheit auf vielen Strecken unseres deutschen Grundgesetzes trug zu Irritationen bei. Andere demokratische Verfassungen in der Welt, zum Beispiel die US-amerikanische, legen die Machtverteilung zwischen Exekutive und Legislative viel deutlicher fest. Der Präsident wird extra gewählt, und es wird kein Zweifel darüber gelassen, daß er es ist, der sich seine Regierung zusammenstellt und die Entscheidungen trifft. Natürlich muß er sich an die Gesetze halten, die der Kongreß erlassen hat, doch er besitzt – viel mehr als bei uns – beträchtlichen Spielraum bei ihrer Auslegung und Anwendung.

Nie und nimmer kämen Mitglieder des Washingtoner Kongresses auf den Gedanken, sich keinen starken Präsidenten zu wünschen, sich stattdessen mit einem sprichwörtlichen Weichei zu begnügen. Selbst die eingefleischtesten linken Mitglieder des Repräsentantenhauses denken nicht daran, den von ihnen so ungeliebten Donald Trump dafür zu schelten, daß er zu rabauzig mit seinen Mitarbeitern umgehe; was man ihm vorwirft, ist vielmehr, daß er sie nicht klug und vorausschauend genug auswählt und sie bald wieder austauschen muß. Man will einen „gleichrangigen“ Gegner, stark und klug.

Was die aktuelle deutsche Politik betrifft, so fällt auf, wie leicht sowohl die Bundeskanzlerin Merkel als auch ihr Innenminister Seehofer ihre jeweiligen Parteiämter zur Verfügung stellten und wie sichtlich schwer sie dagegen der Abschied von ihren hohen Exekutivämtern ankommt. Glauben sie etwa, daß es leichter ist, ein großes Land zu führen als einer einzelnen Partei mit all ihrem Quassel- und Intrigenpotential vorzustehen, daß letzteres mehr starke Führung erfordert? Das wäre allerdings ein starker Beweis für mangelnde Führungsqualität.