© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Das Fußvolk zum Schweigen ermahnt
Minderwertige Meinungen? Eine Antwort auf Simon Strauß’ Fürsprache der Autorität
Günter Scholdt

In der FAZ vom 19. November 2018 erschien unter dem Titel „Woran es fehlt“ ein Feuilletonartikel von Simon Strauß, der schlagartig sämtliche (ohnehin hysterische) Mainstream-Sorgen beseitigt, dieser Autor sei irgendwie systemkritisch. Liest sich der Text doch eher wie ein antipopulistisches Bewerbungsschreiben beim Establishment. Und auch wer solche despektierliche Einschätzung nicht teilt – Strauß entzieht sich schließlich durch mangelnde Konkretion und Begriffsschärfe oft eindeutigen Festlegungen –, sollte als Nonkonformist den Text als Ärgernis wahrnehmen. Denn es gibt selbst bei (ansatzweise) Vertretbarem einen falschen Zeitpunkt zur Verkündigung und gewiß einen desavouierenden Gesinnungsverbund mit Kräften, deren Hauptinteresse im Machterhalt liegt. 

Damit zu seinen Hauptthesen, wobei sich das Abwegige besonders durch zugespitzte, anbiedernde oder unbedachte Formulierungen ergibt: Strauß beklagt die drastisch gesunkene Bereitschaft, „übergreifende Instanzen“ oder eine dringend gebotene „verantwortungsethische Autorität“ zu akzeptieren. Stattdessen vertrauten viele Halbgebildete ihrer eigenen Meinung im Irrglauben, es sei demokratische Pflicht, „jede persönliche Welthaltung gleichberechtigt zu behandeln“. Es gebe aber „minderwertige Meinungen“ und eine „abschätzbare Hierarchie der Wahrheiten. Persönliche Erfahrungen oder verstimmte Bauchgefühle berechtigten nicht automatisch zur Gesellschaftskritik.“

Im Kern zielt er auf eine andere Staatsform

In diesem Sinne wettert er gegen „vorlaute Wut- und Moralbürger“, „verantwortungslose Brachialrhetoriker und vulgäre Ressentimentnachlader“. Seine Tirade gegen erschröckliche Populisten verrät, daß er deren verzweifelte Notwehr gegen bloßes Durchregieren nie begriffen hat: gegen eine postdemokratische Herrschaftstechnik, die mittlerweile fast ganz ohne „Volk“ auskommt. Ja, vermutlich ist ihm nicht einmal bewußt, daß sein abstraktes Autoritätslob, seine Frontstellung gegen „ubiquitäre Meinungsgleichheit“ und den „Irrtum“, alle Ansichten seien „schützenswert“, im Kern auf eine andere Staatsform zielt. (Unsere heimlich gehätschelte Antifa spielt dieses Sozialexperiment ja ohnehin schon antizipierend per Straßengewalt durch.) 

Auch läßt er uns ratlos, von wem seine befürwortete Expertokratie denn getragen sein soll. Es sei denn, er dächte tatsächlich an diejenigen, die im Zentrum seines nostalgischen Lamentos stehen: „Weder Ideologie noch Kenntnis werden da mehr gebraucht; von Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Zeitungen läßt man sich eh längst nichts mehr sagen, von Gerichten, Künstlern und Klimaforschern eigentlich auch nicht. Man ist eigenständig, selbstbewußt, nicht mehr bereit, die Überlegenheit anderer anzuerkennen.“

Darin also liegt nach Strauß das „Grundproblem“ unserer Epoche, ihr „eigentlicher Zeitgeistfehler“. Blieb ihm verborgen, daß gerade diese Institutionen jahrzehntelang fast alles getan haben, ihren Ruf zu ruinieren? Durch selbstverleugnende Flucht in die Arme eines ausgrenzenden Großen Bruders namens „Zivilgesellschaft“. Durch moralistisch motivierten Verzicht auf Dialog und soziale Zerklüftung in koschere Willfährige und unberührbare Falschmeiner, denen man die Pest an den Hals wünscht und schon physisch Äußerungschancen verbaut. Durch Künstler, Kirchen und eine Justiz mit beachtlichen Gleichschaltungsneigungen oder „Wissenschaftlern“, die wenig dagegen tun, daß Fachdebatten zu Ketzerdiskursen entarten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nicht in mangelndem Vorauskredit für solche „Elite“ liegt der schwere Defekt, sondern im provozierenden Faktum, daß ihr immer noch vier Fünftel der Wähler vertrauen. Vom noch positiven Image politisch gelenkter Institutionen wie Staatsfunk oder dem Verfassungsschutz ganz zu schweigen.

Medienkritik hält Strauß für eine Anmaßung

Wundert es da noch, daß auch die Medien apologetisch gemustert werden, deren wohltätiger Dienstleistung man sich neuerdings leider entzöge? Verbat sich die souveräne Teilnehmerin einer Diskussion doch tatsächlich einmal den landestypisch denunzierenden Nannyjournalismus mit dem Satz: „Die Medien sollen mich informieren, nichts weiter – Meinung mach ich mir selbst.“ Welche Anmaßung nach Strauß: „Fast schon ein säkular-häretischer Gedankengang: davon auszugehen, daß es keine (vierte) Gewalt über einem gäbe, die einen an- und aufregen, bilden oder zurechtweisen könnte. Der rechte Populismus siegt vielleicht auch deswegen gerade an allen Fronten, weil der Gedanke an Autorität von linker Seite stets grundsätzlich in Frage gestellt wurde.“

Das mit der linken Zerstörung von Autorität stimmt. Nur haben die Machteroberer seit 68, selbst am Ruder, diese umgehend wieder inthronisiert – und zwar rigoroser und illiberaler als zuvor. Und von dieser längst wirksamen Realität hätte jede Autoritätsdebatte auszugehen. Doch zurück zu Strauß’ wehmütiger Retrospektive auf eine zeitungsgläubigere Epoche: „Daß journalistische Texte in ihrer Eigenschaft als dynamische Diskursbeschleuniger eine gewisse Überlegenheit ausstrahlen, im Sinne eines Wissensvorsprungs vor dem Leser, war Bezugs-, nicht Kündigungsgrund eines Abonnements.“ 

O ja, dieses Mißtrauensvotum per Einzugsverweigerung trifft ins Mark, ein höchst wünschenswertes Heilmittel, das vielen öffentlich-rechtlich Zwangsbeglückten leider verwehrt ist. Und was Medien als „Diskursbeschleuniger“ betrifft, so reduziert sich dies häufig darauf, ungeliebte Themen, Fakten oder Meinungen von der Debatte auszuschließen (Stichwort: Lückenpresse). Falls sie nicht gar den Diskussionen verhindernden Rowdies auf Buchmessen, in Hörsälen oder auf der Straße ideologische Schützenhilfe leisten. Strauß sieht andere Gründe für den Abonnentenrückgang: „Wer aber seine Tage nur in jenen horizontal eingeebneten, abgeschliffenen Chatforen verbringt, in denen jede Bauchmeinung gleich viel zählt, der kann den höhergestellten und beeindruckenden Wert von Politik, Medien oder Kunst nicht verstehen.“

Das ist ein bißchen viel Eloge für unsere realexistierende Trias „Politik, Medien oder Kunst“, deren keineswegs „beeindruckenden“ Wertsetzungen man täglich seufzend ausgesetzt ist. Zugegeben, das Netz transportiert nicht selten vulgäre Geschmacklosigkeiten, wie Mainstream-Medien bei ihren Anti-Rechts-Kampagnen übrigens auch. Aber nicht jeder Klartext ist Pöbelei. Und man stelle sich vor, unsere „Qualitätsjournalisten“ wären allein ohne die täglichen Einsprüche gegen ihre offiziellen „Wahrheiten“! Ohne die alternativen Plattformen, die tatsächlich lebhaft kommunizieren, säßen wir noch tiefer in einem Tal der Ahnungslosen. Dann hätte unsere politische Klasse zum Beispiel noch unverfrorener ihren Marrakesch-Deal als Geheimcoup an der Öffentlichkeit vorbeilancieren können. Oder man denke an die ersten Beschweigungstage nach dem Kölner Grapscher-Festival zu Silvester. 

Widerspruch soll „verfassungsfeindlich“ sein

Doch es kommt noch schlimmer, wenn Strauß gegen Widerspruch den verbalen Knüppel auspackt: „Wer meint, daß sich Meinungsfreiheit mit Verächtlichkeit und Liberalität mit Rücksichtslosigkeit übersetzen läßt, der denkt zumindest im übertragenen Sinne verfassungsfeindlich.“ Wie bitte? Das zielt sprachlich weit unter die Gürtellinie. Besonders zu einer Zeit, in der sich eine argumentationsscheue Herrschaftsclique den „Verfassungsschutz“ per Maaßen-Sturz gänzlich gefügig gemacht hat mit dem Ziel, unseren Rechts- zu einem Gesinnungsstaat umzumodeln. Solcher Wortgebrauch verrät übrigens weniger vom Geistesaristokraten als von der Pose eines Herrn von Rochow, der vor rund 150 Jahren dekretierte, Untertanen stehe es nicht zu, „an die Handlungen des Staatsoberhauptes den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen“.

Wird Strauß durch solche Pointierung bösartig mißverstanden, wo er doch nur gegen dumpfes Volksrumoren für die „Autorität der Reflexion“ geworben habe? 

Rettet dieses Wieselwort den Text oder landen wir lediglich im sozialen Nirgendwo, wo uns der sprichwörtlich gute Weise als Regent offeriert wird? Tatsächlich haben uns solche Idealgestalten nämlich seit über hundert Jahren nicht beglückt. Und die aktuellen, die Merkel, von der Leyen, Schwesig, Maas oder Steinmeier heißen, hübschen die Szene gewiß nicht auf. Ja, selbst der große Plato ersann, nachdem er übrigens in der politischen Praxis jämmerlich gescheitert war, in den „Nomoi“ nur ein kollektivistisches Kontroll-Utopia. Doch wer will schon in einem solchen Staat leben? 

Wen also hat Strauß im Auge, dem er gerade jetzt soviel Vertrauen schenkt, daß er das Fußvolk deshalb zum Schweigen ermahnt? Doch nicht etwa unsere Staatsintellektuellen und „Kunstschaffenden“, die per „Erklärung der Vielen“ (JF 48/18) ihre Art von „Courage“ zeigen, oder die traurige Schar von Geschichtsforschern, die auf Historikertagen zum freiwilligen Kotau antreten. Nein, tatsächlich haben wir doch aktuell ganz andere Sorgen als Strauß’ „Ehrenrettung der Autorität“.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Historiker. Zuletzt veröffentlichte er das Buch  „Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen“ (JF 27/17)