© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Zeitschriftenkritik: Zeitschrift für Germanistik
Grenzen des Humanen erleiden
Dirk Glaser

Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Heinz-Peter Preußer ist von der Schriftstellerin Juli Zeh als „Leistungsethikerin“ begeistert. Ein halbes Dutzend Romane habe sie bisher geschrieben, sieben Theaterstücke, juristische Abhandlungen. Damit nicht genug. Das Werk umfasse auch politische Pamphlete, Kinderbücher, Poetikvorlesungen. Und die umtriebige Vielschreiberin sei in den größten Tages- und Wochenzeitungen präsent, reiche Klagen in Karlsruhe ein, sende offene Briefe an die Bundeskanzlerin.

Anders als der von der Betriebsnudel Zeh hingerissene Preußer gibt sich Sabine Schönfellner deutlich reservierter. Die Grazer Germanistin stützt ihr tendenziell negatives Urteil auf die Lektüre zweier vom Feuilleton hymnisch gefeierter Romane: „Corpus Delicti“ (2009) und „Leere Herzen“ (2017), die um die Problematik biomedizinischer und gesellschaftlicher Normierung kreisen und damit Beiträge zu einem Modethema der Gegenwartsliteratur liefern, mit dem sich der Schwerpunkt des jüngsten Heftes der Zeitschrift für Germanistik (3/2018) befaßt. Es geht darin um „leibnahe Literatur“, die neue Körpererfahrungen und seelische Beschädigungen verarbeitet, wie sie eine technologisch hochgerüstete Medizin für Patienten mit sich bringen kann. Die wie Kompilationen von taz-Leitartikeln wirkenden Romane der SPD-Anhängerin Zeh zählen in dieser „pathographischen Literatur“ zu denen, die durch „holzschnittartige Handlungen“ und simple Rezepte eben abstoßen, weil sie dem Leser suggerieren, Konflikte seien „einfach zu lösen, wenn man sich nur genügend engagieren würde“. Wesentlich einfühlsamer setzen sich jene Texte mit Organtransplantation, Hirnstimulation oder lebensverlängernden Interventionen auseinander, die im Mittelpunkt dieses Heftes stehen. 

So haben der Soziologe Helmut Dubiel, die Gymnasiallehrerin Ute Schmidt und der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner als Betroffene ihre „Grenzerfahrungen“ mit der Parkinson-Krankheit in beklemmenden Reporten geschildert, denen sich Irmela Marei Krüger-Fürhoff (FU Berlin) widmet. Dubiel und Wagner, die sich dafür entschieden, ihrem Leiden mit einem „Hirnschrittmacher“ zu begegnen, um die früher als Schüttellähmung bekannte „sinnsprengende Krankheit“ besser aushalten zu können, bleiben trotzdem schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen nicht erspart. Eine narzißtische Kränkung, die mangelnde Selbstkontrolle, werde eben nur durch eine andere ersetzt, die Abhängigkeit von einem elektronischen Impulsgeber im Mittelhirn. 

Die Literatur über Grenzen des Humanen, wie sie Arno Geiger („Der alte König in seinem Exil“, 2011) während der Alzheimer-Erkrankung seines Vaters erlebt, oder wie sie Wolfgang Herrndorf während seiner in den Selbstmord mündenden Hirnkrankheit erkundet, nehme, wie Johanna Zeisberg (Graz) zeigt,  heute ein Generalthema der Schriftsteller-Generation um 1900 wieder auf: die moderne „Ich-Krise“.

Kontakt: Zeitschrift für Germanistik, Peter Lang AG, Wabernstraße 40, CH-3007 Bern. Das Jahresabo für drei Hefte kostet 139 Euro, für Studenten 98 Euro.

 www.peterlang.com