© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Unumkehrbar verloren
Registratur des Verlustes: Der Film „Piripkura – die Suche nach den letzten ihres Volkes“ dokumentiert die Eingeborenen des Amazonasgebiets
Sebastian Hennig

Den größten Teil des Dokumentarfilms „Piripkura – die Suche nach den letzten ihres Volkes“ nimmt tatsächlich eine ergebnislose Suche ein: Nur wenn es gelingen sollte, zwei eingeborene Männer des Stammes der Piripkura im Regenwald von Brasilien nachzuweisen, bleiben die staatlichen Schutzbestimmungen für das Waldgebiet gültig. Auf diese Weise könnten die wilden Abholzungen zumindest lokal aufgehalten werden. 

Finden soll die Männer Expeditionsleiter Jair Candor, angestellt bei der brasilianischen Indigenenschutzbehörde. Er selbst ist noch mit der Überzeugung aufgewachsen, das Leben der Indios sei nicht viel mehr wert als das von Tieren. Diese wie jene dürften zum eigenen Vorteil getötet werden. In den sechziger Jahren erlebte er, wie Männer sich zu Menschenjagden zusammenfanden, um den Indianern heimlich die Bogensehnen zu durchschneiden und anschließend ihre Häuser anzuzünden. Nun also soll Candor die wenigen Überlebenden nachweisen und ihre Lebensräume bewahren. Er sinniert ergebnislos darüber, wie und wann sich sein Blickwinkel auf die Ureinwohner gewandelt hat. So scheint seine Bewertung der Naturmenschen sich in dem Maße verschoben zu haben, in dem diese immer seltener wurden.

In Brasilien gelten jene, die einst um der Ausbeutung der Ressourcen willen niedergemacht wurden, inzwischen als „entscheidende Träger nachhaltiger Entwicklung“. Sie sind selbst eine auszubeutende Ressource innerhalb des moralisch ausstaffierten Schaugeschäftes. Dieser Film verdankt die Preise auf den Festivals allein der ungebundenen (Über)lebensenergie zweier Menschen, die von der Kamera mit ähnlich subtil verschleierter Gier instrumentell ausgebeutet wird, wie Rotoren und Module es mit dem Wind und der Sonne tun. Es ist die Fortsetzung des Raubbaus mit anderen Mitteln. 

Die Suche nach den wilden Menschen gestaltet sich indes um einiges schwieriger als nach Pflanzen oder Tieren. Geschickt weichen sie jeder Begegnung aus. Im Amazonasgebiet lebten 130 Völker, die sich freiwillig voneinander fernhielten, bis das Konzept der Weltoffenheit auch an ihnen gewaltsam durchgesetzt wurde. Candor braust mit seinem Wagen provisorische Straßen entlang. Transporter mit gigantischen Baumstämmen kommen ihm entgegen.

Plötzlich tauchen die Männer freiwillig auf

In den Baracken im Busch hausen die aus ihrem Lebensraum und ihrer Lebensweise vertriebenen indigenen Volksangehörigen. Rita ist mit ihren beiden im Busch verbliebenen Stammesbrüdern Pakyî und Tamandua, die nun gesucht werden, eng verwandt. Auch deshalb nimmt sie an der fünftägigen Fußreise durch den Busch teil – im blinden Vertrauen darauf, Tapiri zum nächtigen zu finden. So heißen die kleinen Schutzdächer, welche die Eingeborenen sich aus Naturmaterialien errichten. 

Die Navigationstechnik hilft durch das immer gleiche Grün. Eine Landschaft gibt es hier nicht. Der Wald ist vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Auf die Tiefe des Waldbodens dringt kaum etwas Sonnenlicht hinab. Nachts ist es ohrenbetäubend laut von den verborgenen Lebewesen des Waldes. Die Fahnder stapfen durch tiefes Wasser und wegloses Gebüsch, bis sie schließlich unverrichteter Dinge zurückkehren müssen. 

Die zweite Expedition findet dann ohne Rita statt. Sie entdecken abermals kaum mehr als Zeichen der vorübergehenden Anwesenheit der Gesuchten, Bearbeitungsspuren am Holz, die Schalen von Yamswurzeln, Fischgift und eine Räucherstelle. Der Expeditionsleiter schleppt sich unterdessen mit schmerzendem Knie. Wieder kehren sie unverrichteter Dinge zurück.

Es läßt sich nicht erzwingen. Dann schließlich nähern sich die beiden Piripkura freiwillig dem Lager. Nach fast zwanzig Jahren ist ihnen im Regen die Fackel ausgegangen, mit der sie ihr Feuer bewahrten. Von diesem Höhepunkt aus erhält der Film seinen Sinn. Die vergebliche Suche, die Mühen des Weges, münden in der Pointe des mühelosen Erscheinens der beiden wilden Männer. Auf der rohen Bank vor der Baracke nehmen sie Platz. Einerseits würdevoll und andererseits völlig unbefangen. Einer der beiden reibt sich seinen Rücken an der Holzwand der Baracke. Den Fotografierenden halten sie unverstellt ihre Gesichter hin. Die Bewegungen haben etwas Theatralisches, als stünden sie auf einer Bühne. 

Der Treffpunkt ist wie eine Relaisstation zwischen Wildnis und Zivilisation gelegen. Der Projektleiter ist bemüht, binnen Stunden einen Arzt herbeizuholen. Das mißlingt ihm. Festhalten kann er die Männer nicht. Letztlich erscheint eine korpulente Schwester und untersucht die beiden. Der Ältere läßt sich geduldig in die Pupille leuchten. Sein Kamerad aber scheut vor der Frau. Als endlich wieder ihre Fackel entzündet wird, wollen sie aufbrechen. Folgen soll ihnen niemand. Am Schluß verschwinden die beiden auf einem der alten Holzwege in den Busch. Fortpflanzen können sich die beiden Männer nicht mehr. Wir schauen einer unumkehrbar verlorengehenden Lebenswirklichkeit hinterher.