© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Blech für Blech
Im Kreis der Familie: Die Adventszeit bringt die Förmchen zum Plätzchenbacken wieder hervor
Paul Leonhard

Nein, auch in diesem Sommer haben wir es nicht geschafft, die in Sütterlinschrift geschriebenen Rezepte der Urgroßmütter zu entziffern. Weder der schlesischen noch der böhmischen. Vielleicht gelingt es ja zu Weihnachten, jetzt ist es höchste Zeit die Plätzchen für das Fest zu backen. Eigentlich sollte man Mitte Oktober schon den Teig fertigen, um einige Wochen später die Plätzchen zu backen. Aber da war draußen noch schönstes Sommerwetter, obwohl sich schon in den Regalen der Supermärkte Stollen, Lebkuchen, Dominosteine, Spekulatius und Marzipanbrot türmten. 

In diesem Jahr wollen wir uns neben den „normalen“ Plätzchen mit Zuckerguß an Nikolausecken versuchen. Auf dem Einkaufszettel stehen die benötigten Zutaten: Weizenmehl 405, Butter, Zucker, Milch, Kakaopulver, Pfefferkuchengewürze, Zitronat und Orangeat, Mandeln, Margarine, als Treibmittel Pottasche, Eier nicht zu vergessen. Der Bienenhonig vom befreundeten Imker steht schon zu Hause. Die Haselnüsse haben wir in diesem Jahr bereits Ende August gesammelt. Sie müssen nur noch zerkleinert werden. Die Prise Salz findet sich im Küchenschrank, so wie die benötigten fünf Tropfen Bittermandelaroma. Und endlich die Rumflasche öffnen zu dürfen, darauf habe ich mich schon lange gefreut.

Das Mehl und die übrigen Zutaten sind schnell zu einem Teig geformt, der anschließend in eine Tonkruke kommt. Diese ist eigentlich zur Milchsäuregärung von Gurken und Sauerkraut bestimmt, tut aber auch hier ihre Pflicht. Sie wird in den Keller gestellt, wo es schön kühl ist und der Teig eigentlich vier Wochen verbleiben soll. 24 Stunden vor dem großen Backtag wird er aus seinem Verlies befreit und in die warme Küche geholt, damit er sich akklimatisieren kann und zum Plätzchenstechen warm und geschmeidig ist. Die Backbleche werden mit Backpapier belegt und die schöne, unbehandelte Holzplatte des alten Küchentisches wird mit Mehl bestreut. Dann wird der Teig etwa drei Millimeter dick ausgerollt. 

Die Kinder helfen beim  Ausstechen und Verzieren

Aus einer Kiste hole ich die Ausstechformen aus Blech hervor: Weihnachtssterne, Halbmonde, Herzen, Tannenbäume, Engel, Maria und Joseph, das Jesuskind, alles Erbstücke aus dem Böhmischen. Ich steche eine Reihe Sterne aus und bekomme plötzlich Hilfe. Die Kinder sind auf die Küchenbank gestiegen. Der Dreijährige hantiert in der linken Hand mit einem Halbmond, in der rechten mit einem Herzen. Seine kleinere Schwester kostet vom Teig, verzieht das Gesicht und spuckt ihn wieder aus: „Bäh!“

Eine Einschätzung, die sich garantiert ändern wird, wenn die Plätzchen erst gebacken sind. Für sieben Bleche sollte der Teig reichen, zwei weitere sind für den speziellen Nikolauseckenteig mit Rum bestimmt. Aus den Resten der ersten Sternenproduktion knete ich inzwischen neue Masse und rolle diese aus. Allmählich füllen sich die Bleche. Die allerletzten Reste werden zu Würstchen gerollt und zu Brezeln geformt

Backblech für Backblech verschwindet im vorgeheizten Ofen und wird bei rund 150 Grad gebacken. Dann werden die Plätzchen zum Auskühlen für eine halbe Stunde auf ein großes Tuch gelegt. Was nun beginnt, wird die noch halbwegs saubere Küche verwandeln. Denn pünktlich zum Verzieren der Sterne, Tannenbäume und Co. haben sich die Kinder, angelockt von dem herrlichen Duft, wieder eingefunden. Sie wollen mithelfen, die Plätzchen, wenn schon nicht bei der Glasur mit Schoko- oder Zuckerguß, dann wenigstens mit bunten Zucker- oder Schokostreuseln und gehackten Mandeln oder Nüssen zu verzieren. So wird jedes zum Einzelstück.

Die Tücken beim Plätzchenbacken liegen erfahrungsgemäß neben der Glasur in Telefonanrufen alter Freunde, die sich ausgerechnet am Plätzchenbacktag an einen erinnern und derart fesselnd berichten, daß die Zeit vergessen wird, bis einem plötzlich ein seltsamer Geruch in die Nase steigt. Oder bei kleinen Kindern, die unversehens das ganze Blech samt Zuckerstreuseln und die Schälchen mit der eingerührten Glasur samt Pinsel vom Tisch befördern.

Am Ende kosten wir ein Plätzchen nach Wahl, packen die anderen gemeinsam in gutschließende Blechschachteln. In der Speisekammer und in einem geflochtenen ausrangierten Wäschekorb werden sie warten, bis wir sie Weihnachten hervorholen. Allerdings ist es schon vorgekommen, daß ein gut verstecktes Kästchen mit Weihnachtsplätzchen erst Ostern gefunden wurde, aber diese haben auch dann noch geschmeckt. 

Allein in der Plätzchenbackstubenküche, schaue ich mir noch einmal ein Rezept in Sütterlin an. Merkwürdige Mengenangaben stehen da: Deka entziffere ich und mache mich kundig. Zehn Deka entsprechen 100 Gramm – Plätzchenbacken bildet sogar. Dann schleiche ich zur Speisekammer und öffne die Dose mit den mit Rum versetzten Nikolausecken: Lecker.