© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/18 / 30. November 2018

Der Flaneur
Notdienst im Kasernenton
Bernd Rademacher

Wenn einem schon ein Stück Zahnersatz herausfällt, dann natürlich am Wochenende. Also Samstag morgen schnell die Nummer vom zahnärztlichen Notdienst gegoogelt. Am Telefon bestellt mich eine Sprechstundenhilfe in einem schroff-unfreundlichen, jedenfalls restlos empathielosen Ton für elf Uhr. 

Das Wartezimmer ist voll, ich werde auf einem Katzenstuhl im Gang geparkt. Die Dame vom Telefon sieht überraschend hinreißend aus, verströmt aber eine eiskalte Aura. Während sie im Verhörstil meine Personalien aufnimmt, klingelt das Praxistelefon. „Worum geht’s? Aha! Ja! Nein! ...“, kommandiert sie barsch. Dann wird sie laut: „Nein, wenn Sie Schmerzen haben, kommen Sie jetzt! Sie brauchen uns nämlich nicht nachts anzurufen!“ Stand auf dem Schild im Hausflur wirklich „Zahnarzt“ oder „Domina-Studio“?

Über den Gang Richtung Röntgenzimmer rasselt der Häftling mit seinen Fußfesseln.

„Der nächste bitte.“ Es kommen zwei Männer aus dem Wartezimmer: ein Südländer mit Handschellen und Fußfessel und ein Justizbeamter, der aussieht wie der Riese Hagrid aus den „Harry-Potter“-Filmen: mindestens zwei Meter zehn groß, Vollbart und eine Wampe wie ein Medizinball. Der Häftling faßt sich etwas wehleidig immer wieder an Mund und Wange. Eine gute Stunde später fällt jemandem ein, daß ich ja noch im Flur sitze. Ich komme in einen Behandlungsraum. Der Arzt schaut herein und fragt, ob er seine Brille hier liegenlassen hat. Er hat. Da kann er eben einen schnellen Blick in meinen Mund werfen. Im Ton eines Staatsanwaltes knarrt er: „Das tut ja gar nicht weh! Dann sind Sie kein Notfallpatient! Aber jetzt sind Sie ja hier.“ Er klebt die Brücke provisorisch wieder ein, fertig.

Auf dem Gang rasselt das Schloßgespenst aus der Haftanstalt mit seinen Ketten Richtung Röntgenzimmer. Draußen auf der Straße muß ich lachen: So eine schräge Zahnarztpraxis habe ich noch nie erlebt.