© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/18 / 14. Dezember 2018

Nichts verbleibt im Abstrakten
Philosophie zwischen Fötus und Weltall: Gesammelte An- und Einsichten von Peter Sloterdijk
Michael Dienstbier

Polyloquien – ein von mehreren Beteiligten betriebener geistig anregender Austausch frei flottierender Gedanken, die sich abschließend zu einem großen Ganzen verbinden. Doch keine Personen aus Fleisch und Blut treffen hier aufeinander, sondern personifizierte Prinzipien aus dem Gedankenuniversum Peter Sloterdijks, von denen drei – der Makrohistoriker, der Literaturhistoriker, der Theologe – dem geneigten Leser bereits aus dem abschließenden Kapitel der zwischen 1998 und 2004 erschienenen Sphären-Trilogie des Philosophen bekannt sind. Hier werden sie ergänzt durch den Opiniater, den Raimund Fellinger in seiner dem vorliegenden Buch beigefügten Gebrauchsanweisung als „Facharzt für Erkrankungen des Meinungsapparates“ bezeichnet. Fellinger, langjähriger Lektor und Herausgeber der Veröffentlichungen Sloterdijks im Suhrkamp-Verlag, weist den vier fiktiven Personen Passagen aus dem Gesamtwerk Sloterdijks zu – mal längere Auszüge aus Buchkapiteln, mal lediglich aphoristische Verdichtungen –, um auf nur gut 80 Seiten einen Eindruck sowohl der Sprachgewalt als auch der thematischen Reichweite des Philosophen zu vermitteln.

Mit klarer Kante zu tagesaktuellen Themen

Wer sind die Adressaten dieses editorischen Experimentes? Sloterdijk-Neueinsteiger werden verwundert feststellen, daß hier zum einen in großen Worten die Aktualität der Heideggerschen (Da-)Seins-Philosophie angepriesen wird, um wenig später zu lesen, daß „durch die irreversiblen Entscheidungen der Schiedsrichter eine religiöse, genauer eine ontologische Disposition angesprochen [wird] – die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Macht des Faktischen“. Das direkte In-Beziehung-Setzen fundamentalontologischer Grundannahmen mit der gottgleichen Rolle des Schiedsrichters während eines Fußballspiels – auch wenn mittlerweile der Videobeweis seinen Beitrag zur Entzauberung des einst allmächtigen Spielleiters geleistet hat – mag nicht für jeden auf der Hand liegen. Doch ist es genau das, was Sloterdijk unter anderem auszeichnet: Nichts verbleibt ausschließlich im Abstrakten, jeder Gedanke, jede Theorie wird immer auf die konkrete Lebenspraxis bezogen; ein Vorgehen, welches er sich bei Heidegger, neben Nietzsche und Schopenhauer zentrale Quelle seiner geistigen Inspiration, abgeschaut hat. Eine subjektive Sammlung entsprechender Passagen besitzt den Charme, diese Methode besonders betonen zu können.

Die Stellung des Individuums als Teil verschiedener Gruppenkonstellationen in einer mehr und mehr aus den Fugen geratenen Welt – seit knapp vier Jahrzehnten oszilliert Sloterdijks Denken und Schreiben zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos des menschlichen Daseins – eine Philosophie zwischen Fötus und Weltall – und war sich dabei gemäß seiner Verortung im Konkreten nie zu schade, pointiert und mit klarer Kante Stellung zu tagesaktuellen Themen zu beziehen: Gentechnik, Steuerpolitik, der durch Zwangsgebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk und zuletzt die Migrationskrise. Als eine der wenigen öffentlichen Personen von Format hat er sich seine Unabhängigkeit bewahrt und den Diskurs mit fundierten Wortmeldungen bereichert. Viel Neues hat „Polyloquien“ dem Sloterdijk-Kenner nicht zu bieten. Vielmehr dient die thematisch weitgefächerte Zusammenstellung besonders gelungener Formulierungen als Erinnerung an vor langer Zeit Gelesenes und führt einem vor Augen, daß Sloterdijk bereits vor Jahrzehnten ökonomische, wissenschaftliche oder popkulturelle Entwicklungen vorausgeahnt und eingeordnet hat, die sonst kaum einer auf dem Schirm hatte.

Zu lesen sei es als ein „Brevier als Stundenbuch, dessen Lektüre die Gegenwart erhellen mag“, formuliert Herausgeber Fellinger, eine Kategorisierung, die es durchaus auf den Punkt bringt. Die Erhellung der Gegenwart wird etwas eingetrübt durch die bemerkenswert große Anzahl an Druckfehlern, die ein ordentliches Lektorat hätte verhindern müssen.

Peter Sloterdijk: Polyloquien. Ein Brevier. Suhrkamp, Berlin 2018, gebunden, 86 Seiten, 14 Euro