© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/18-01/19 / 21./28. Dezember 2018

Die letzte Zeche zahlte der Staat
Steinkohlebergbau in Deutschland: Zwei Kumpel berichten von der harten Arbeit und ihren Perspektiven heute
Karsten Mark

Es war an einem Donnerstag Mitte September, da ordnete die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Räumung eines besetzten Waldstücks zwischen Köln und Aachen an, das schon bald dem größten Braunkohletagebau im rheinischen Revier weichen sollte – nämlich des Hambacher Forsts. Sie löste damit einen der umfangreichsten Polizeieinsätze des Landes und den bislang hitzigsten Disput um das Ende der Kohleverstromung in Deutschland aus. Daß nur einen Tag später, am 14. September, die letzte deutsche Steinkohlenzeche im gut 100 Kilometer entfernten Bottrop im nördlichen Ruhrgebiet ihren regulären Förderbetrieb einstellte, ging in der bundesweiten Nachrichtenlage praktisch unter.

So richtig verwunderlich ist das nicht. Zwar hält die Steinkohle immer noch gut 15 Prozent am deutschen Energiemix, bloß stammt der Großteil schon lange nicht mehr aus deutschem Boden. Mit dem kompletten Wegfall heimischer Förderung dürfte nun auch die politische Fürsprache für deren Verstromung einschlafen. Der reale Marktpreis der hiesigen Steinkohle ist im Vergleich zur Importkohle aus Südafrika und Südamerika mehr als doppelt so hoch.

Fast 4,5 Milliarden Euro pro Jahr pumpten der Bund und das Land NRW noch vor 20 Jahren in das einstmalige schwarze Gold. Seither sank der Betrag stetig, liegt für dieses Jahr aber noch bei über einer Milliarde. Offiziell ist erst Ende dieser Woche, am 21. Dezember, Schluß. In den letzten drei Monaten ist allerdings kaum mehr produziert worden im Verbundbergwerk Prosper-Haniel. Es gebe seit dem 15. September nur noch eine „sporadische Förderung“, teilte der Betreiber RAG, die einstige Ruhrkohle AG, mit, „die Fördermenge für 2018“ sei „erreicht“. Für eine Aktiengesellschaft klingt das ungewohnt planwirtschaftlich – ist es, bedingt durch staatliche Subventionen, tatsächlich auch.

„Wenn es an der Ruhr richtig brennt“, hatte der CDU-Politiker Rainer Barzel im Landtagswahlkampf 1966 gesagt, „gibt es im Rhein bei Bonn nicht genug Wasser, das Feuer zu löschen – auch wenn man die Donau hinzunimmt.“ Er hatte formuliert, was viele in Deutschland fürchteten: Wenn die Zechen dicht machen und Tausende Bergleute auf die Straße setzen, gibt es einen großen Aufstand. Also zahlte der Staat lieber hohe Subventionen – 50 Jahre lang.

Daß es anderswo weitaus günstigere Kohle gab, die viel höher lag und damit viel einfacher abzubauen war, zeichnete sich schon Ende der 1950er Jahre ab – unmittelbar und schmerzlich abrupt nach dem Nachkriegsboom, der 1956 seinen Höhepunkt erreicht hatte. Doch dank der palliativen Subventionsmilliarden gab es nur ein langsames Zechensterben. Bergwerke wurden nach und nach zusammengelegt, Bergleute bei der Schließung einer Zeche in die benachbarte verlegt und auf diese Art rund 50.000 Arbeitsplätze in 20 Jahren verschoben.

So kommt auch die letzte deutsche Zeche, Prosper-Haniel, zu ihrem kuriosen Namen. Haniel nämlich war ein Montanmagnat, der eigentlich Franz  Haniel hieß und zu dessen Verdiensten gehört, daß er zeigte, wie sich das harte Mergelgestein über der Kohle durchbrechen ließ, und daß er Dampfpumpen einführte, um das Grubenwasser auch in größerer Tiefe in den Griff zu bekommen. Prosper hingegen hieß der Herzog von Arenberg mit Vornamen, der im 19. Jahrhundert Inhaber des „Bergregals“, also des Verfügungsrechts über die Bodenschätze, war.

„Kein Kumpel wird  ins Bergfreie fallen“

Solange es noch genügend Bergwerke in der Nachbarschaft gab, mußte nie ein „Kumpel“, wie sich die Bergmänner selber nennen, um seinen Arbeitsplatz bangen. „Kein Kumpel wird ins Bergfreie fallen“ (also in den Abgrund), lautete über Jahrzehnte das Mantra von Gewerkschaft und Sozialdemokratie – und war durchaus kein leeres Versprechen. „Funktionieren konnte das aber nur, weil sich viele auch überreden lassen haben, in andere Branchen zu wechseln“, berichtet Guido Reil aus Essen der JF, der noch bis Mitte des kommenden Jahres als Schachtsteiger bei Prosper-Haniel arbeiten wird. Dann wird sein Schacht verfüllt, also endgültig zugeschüttet. Prosper-Haniel ist bereits sein siebtes Bergwerk. Reil fing 1986 auf der Gelsenkirchener Zeche „Consolidation“, kurz „Consol“ genannt, an. Schon damals war es unter den Auszubildenden Thema, ob sie denn jemals das Rentenalter als Bergmann erreichen könnten. Reil hat es geschafft – mit dann gerade einmal 49 Jahren.

Die Vorruhestandsregelung ist bemerkenswert kulant – wie so vieles im Ruhrbergbau. „Wenn du krank warst, warst du krank – da hat keiner nachgefragt, wie lange, oder Druck gemacht wie bei anderen Firmen“, erzählt Reil. „Und wenn du irgendein Zipperlein hattest und deshalb bestimmte Sachen nicht arbeiten konntest, ging das auch in Ordnung.“ Nach einem Traumjob klingt es dennoch nicht, was er über seine Anfangsjahre berichtet. „Consol war wirklich Hardcore“, sagt Reil, „den Umgangston, der damals dort geherrscht hat, kann sich heute überhaupt keiner mehr vorstellen. Das würde sich niemand mehr bieten lassen. Und die Arbeit war auch heftig. Da gab es Kohlenstöße von nur 70 Zentimetern, zum Teil in Steillage. Da mußte man noch mit dem Abbauhammer ran.“ Der Abbauhammer, ein Preßluft-Pickhammer, war gefürchtet unter den Bergleuten. Er war das Werkzeug der fünfziger Jahre zum „Kohle-Machen“ und bescherte so manchem von ihnen schwergeschädigte Armgelenke oder auch eine Steinstaublunge.

Letztere diente mitunter auch als Ausrede dafür, sich regelmäßig Hochprozentiges zu gönnen. „Die Kumpel spucken nich’ rein“, heißt es im „Kohlenpott“, dem Ruhrgebiet, noch heute. Heinrich Böll, Großneffe des gleichnamigen Kölner Literaten und selber Architekt, berichtete einst vom Kneipenbetrieb seiner Mutter im Essener Norden: „Um sechs Uhr morgens hat sie die Wirtschaft geöffnet. Dann kamen die ersten, um sich mit einem Schnäpschen den Staub runterzuspülen.“ Was heute zwar ziemlich extrem, aber auch irgendwie sympathisch und nostalgisch klingt, dürfte in vielen Fällen einen weitaus tragischeren Hintergrund gehabt haben. 

„Die Mengen an Alkohol, die in den Achtzigern und frühen Neunzigern auf Consol getrunken wurden, waren absolut heftig“, erzählt Reil. „Offiziell war das natürlich verboten, aber wirklich gekümmert hat es kaum jemanden. Da gab es Leute, die haben morgens schon Schnaps getrunken, um ihren Job überhaupt ertragen zu können.“ So mancher Arbeitsunfall dürfte auf das Konto von Kumpeln gegangen sein, die schlicht nicht mehr Herr ihrer Sinne waren. „Als wir noch in der Lehre waren, da kann ich mich erinnern, daß mal ein Verletzter auf der Trage aus dem Schacht geholt wurde, vor dem wir gerade gewartet hatten. Der hat geschrien wie am Spieß – und wir hatten überhaupt keine Lust mehr, dann noch einzufahren.“

Eine andere Episode aus seiner Lehrzeit erklärt sehr plausibel die immense Macht von Gewerkschaften und Sozialdemokraten in dieser Zeit. „Ich hab an der Materialausgabe meine Arbeitskleidung bekommen“, berichtet Reil, „und obendrauf lag direkt der Aufnahmeantrag für die Gewerkschaft – und ganz oben der für die SPD.“

Detlef Lauster entwickelte wie viele andere Ehemalige eine handfeste Haßliebe zu seinem Beruf als Bergmann. 1977 fing er auf der Gelsenkirchener Zeche „Nordstern“ an, jener Schachtanlage, die 1997 zum „Nordsternpark“ und Veranstaltungsort der Bundesgartenschau wurde. Lauster gehört zur großen Mehrheit der ehemaligen Kumpel, die wirklich stolz darauf sind, mal Bergmann gewesen zu sein, und auch darauf, was aus vielen ehemaligen Schachtanlagen geworden ist – nämlich Freiluftmuseen, die tatsächlich eine touristische Anziehungskraft entwickeln. „Auf Kohle geboren“, lautete seit Mitte der 1990er Jahre Lausters Motto für seine zweite Karriere als Musiker. Ein solcher war er eigentlich schon immer, mußte sich am Anfang seines Berufslebens jedoch sein Brot noch unter Tage verdienen. Damals hatte er es gehaßt, daraus macht Lauster keinen Hehl. „Wenn Sie immer in so’n Loch müssen, in dem es heiß ist und saugefährlich, dann macht das keinen Spaß“, sagte Lauster der JF. Eigentlich wollte Lauster Elektriker werden, sein Vater hatte einen Radio-Laden in Gelsenkirchen-Horst. Doch eine Schwäche beim Farbensehen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Also wurde er Schlosser – ohne rechte Lust dazu. „Als Schlosser wirst du in den Streb gerufen, weil irgendein hydraulischer Schild kaputtgegangen ist. Da ist es niedrig, alles voller Stempel. Die wiegen gefühlt eine Tonne, und du mußt sie irgendwie durch die Gegend wuchten. Dann hörst du nur: ‘Lauster! Der Bock 215 is’ kaputt! Geh da hin mit deine Sachen!’ – Und du hast dir schon den ganzen Rücken aufgeratscht, so niedrig ist das da. Und überall quillt   Hydrauliköl aus den Schilden. Du hast erstmal keine Ahnung, wo genau das Problem ist. Und dann hörst du wieder: ‘Wat is’ denn los da? – Immer noch nich’ fertig?’“ 

Die Wehrpflicht unterbrach Detlef Lausters Bergmannslaufbahn – und er empfand die Geländemärsche mit über 20 Kilogramm Gepäck als Erholung: „Die Bundeswehr war gegen die Arbeit unter Tage ’ne lasche Sache“, sagt er. Nach dem Wehrdienst kehrte Lauster als Beschäftigter einer externen Firma für zwei Jahre zurück. Aber die Pläne des ambitionierten Musikers kollidierten mit dem Schichtsystem: „Der Steiger wollte immer, daß ich auch samstags arbeite“, erzählt er, „aber samstags wollte ich viel lieber irgendwo auftreten – das vertrug sich nicht.“ Sich zu beschweren brachte nicht viel. „Dann bekam ich noch schlechtere Schichten.“ Letztlich habe er oft sogenannte Türkenschichten machen müssen, also Schichten, in denen türkische Arbeiter weitgehend unter sich waren. „Aber dann hatte ich wenigstens meine Ruhe“, sagt Lauster

Mitte der Neunziger machte er dann seinen Traum wahr und wurde „der singende Bergmann“ von Gelsenkirchen. Was ihn motiviert hat? – „Ich habe auf der Schinkenstraße auf Mallorca erlebt, wie Leute aus Nordrhein-Westfalen den halben Abend kölsche Lieder gesungen haben, selbst wenn sie keine Kölner waren. Aber wenn du die Leute aus dem Ruhrgebiet fragst, ob sie dir spontan drei Lieder aus dem Ruhrgebiet nennen können, geraten alle ins Straucheln.“ Immerhin eines ist – auch dank Detlef Lauster – tief im kollektiven Gedächtnis verankert: „Glück auf! Glück auf! Der Steiger kommt, / Und er hat sein helles Licht bei der Nacht’ schon angezünd’t/ Schon angezünd’t“.