© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/18-01/19 / 21./28. Dezember 2018

Zuckerbrot und Peitsche
Saudi-Arabien: Kronprinz Mohammed bin Salman irritiert die Welt mit seinen Amtsgeschäften
Marc Zoellner

Es war die wohl ungewöhnlichste Messe, die Ava Morkos je gehalten hatte: Weit über fünfzig Gläubige hatten sich Anfang Dezember in der kleinen Andachtshalle, einer privaten Einrichtung eines koptischen Gastarbeiters, versammelt, um dem Oberhaupt der koptischen Kirche von Schubra al-Chaima, der viertgrößten Stadt Ägyptens, im Gebet zuzuhören. Eigens für diesen Anlaß hatte der Bischof Hostien und Heiligenbilder aus Kairo einfliegen lassen; ebenso wie einen begleitenden Stab an Mitarbeitern seiner Kirche. Doch das Spezielle an Morkos’ Gottesdienst war nicht die Anwesenheit von Dutzenden, meist nur teils oder gar gänzlich unverschleierten Frauen, die sich im Publikum unter die Gläubigenschar mischten. Mit Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, als Austragungsort zelebrierte Ava Morkos erstmals in der Geschichte des Landes eine legale christliche Messe auf saudischem Boden.

Gespräche mit Kopten und im Vatikan

Und dazu noch eingeladen von allerhöchster saudischer Stelle: Denn aufgerufen zum Gottesdienst in Riad hatte kein Geringerer als der 33 Jahre junge Kronprinz Mohammed bin Salman, der seit Juni 2017 die Amtsgeschäfte des radikalsunnitischen Königreiches führt und sich seitdem um einen Ruf als innenpolitischer Reformator bemüht. Schon im März war bin Salman in der Kairoer Markuskathedrale mit Tawadros II. zusammengetroffen, dem Patriarchen der koptischen Kirche Ägyptens, um „ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Kirche zu eröffnen“, wie Tawadros II. im Anschluß lobte. Nur einen Monat später empfing der Kronprinz – ebenso erstmalig – in Riad eine Delegation des Vatikan. Anschließende, von arabischen Medien gestreute Gerüchte über eine Vereinbarung zum Bau von Kirchen in Saudi-Arabien ließ der Heilige Stuhl rasch dementieren – nicht jedoch Mohammed bin Salman. 

„Was in den vergangenen dreißig Jahren passiert ist, ist nicht Saudi-Arabien“, verkündete bin Salman bereits vergangenen Herbst im Interview mit dem britischen Guardian. „Wir kehren nun zurück zu den von uns befolgten Werten – zu einem moderaten Islam, offen der Welt und allen Religionen gegenüber.“ Die schrittweise Einführung des Frauenwahlrechts, sowohl aktiv als auch passiv, auf lokaler Ebene; die Erlaubnis für Frauen Auto zu fahren, sich ihren Beruf frei zu wählen und ebenso wie Männer sportliche und kulturelle Massenveranstaltungen zu besuchen; die De-facto-Entmachtung der unter seinem Vater Salman ibn Abd al-Aziz gesellschaftlich noch einflußreichen Religionspolizei – seit gut anderthalb Jahren überrennen Mohammed bin Salmans liberale Reformen die salafistische saudische Gesellschaft förmlich mit Siebenmeilenstiefeln. Und lassen viele Saudis dabei ratlos zurück. Allen voran jene, die zeit ihres Lebens vom Salafismus ihrer Nation geprägt worden waren.

„Wir wissen nicht, was hier passiert“, berichten Riader Einwohner, aus dem salafistischen Milieu stammend, im Interview mit der Washington Post. „Es ist, als ob wir Fremde im eigenen Land werden.“ Immer öfter, erzählen sie dem US-Magazin, würden prominente Geistliche eingesperrt, Moscheen mit Razzien überzogen. Als Rückzugsorte zur religiösen wie politischen Debatte blieben ihnen einzig private Häuser sowie soziale Nachrichtendienste wie Twitter und Facebook. Man sei in Sorge, so ein Salafist der Post gegenüber, wie die Amish in den Vereinigten Staaten behandelt zu werden, „abgesondert von der freizügigen Gesellschaft aufgrund unseres strengen Glaubens.“ Doch was die Befragten besonders verwundert, ist der Umstand, daß sich Mohammed bin Salman durchaus noch salafistische Kleriker in seiner Umgebung hält – gerade solche, die als strengste Kritiker der Gleichstellung von Mann und Frau in Saudi-Arabien gelten.

Es herrscht ein „Gleichgewicht der Angst“ 

„Unter Mohammed versuchen die saudischen Behörden, ein Gleichgewicht zwischen Liberalen und Konservativen zu schaffen, so wie sie es schon immer taten“, erklärt der Pariser Politikprofessor Stéphane Lacroix. „Jetzt aber sind die Methoden viel brutaler. Es ist, was ich das Gleichgewicht der Angst nenne.“ Tatsächlich herrscht in Saudi-Arabien derzeit ein Klima permanenter Furcht: vor willkürlichen Verhaftungen, vor drakonischen Verurteilungen, nicht erst seit der brutalen Ermordung des regimekritischen Bloggers Jamal Kashoggi auch vor Folter und selbst gezielter Tötung.

 Die Angst ist dabei berechtigt. So wurden erst im August, zeitgleich mit einer Verhaftungswelle unter salafistischen Predigern, zwölf namhafte saudische Frauenrechtlerinnen von den Behörden festgenommen; darunter auch Samar Badawi, die Ehefrau des liberalen Bloggers Raif Badawi, der im Mai 2014 zu zehn Jahren Haft und tausend Peitschenhieben verurteilt wurde. Seit Jahren hatte sich Samar für das Recht von Frauen, Auto zu fahren und wählen zu gehen, engagiert – zuletzt jedoch nur noch für die vorzeitige Freilassung ihres Mannes. 

In seinem rigorosen Umgang mit Oppositionellen sämtlicher Couleur, resümierte die Washington Post trefflich, sendet der Kronprinz „die Nachricht aus, daß Mohammeds Reformen weder offen für Verhandlungen noch für Kritik“ seien. 

Es scheint, daß der saudische Kronprinz nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche mit jeder medienwirksam eingeführten Reform andere elementare Grundrechte stillschweigend außer Kraft setzt: Eine Erfahrung, die kürzlich auch Calliste Weitenberg bestätigen mußte. „Fragen bezüglich der Meinungsfreiheit hängen schwer über all meinen Unterhaltungen“, schreibt die Reporterin des australischen Fernsehsenders SBS anläßlich ihrer Dreharbeiten in Saudi-Arabien über Frauen und Autos, „und Interviews werden oft eingeleitet vom Einverständnis zu Themen, über welche nicht geredet werden darf. Die ganze Zeit über, die wir filmten, wurde ich von staatlichen Aufpassern überwacht.“

Unangefochten steht Mohammed bin Salman der saudischen Monarchie vor: Schon im Juni 2017 ließ der damals 31jährige den eigentlichen Thronfolger Mohammed ibn Naif durch seinen Vater absetzen und unter Hausarrest stellen. Bis August folgten unzählige Verhaftungen prominenter Scheichs und Kleriker, einflußreicher Geschäftsleute und Akademiker. Viele hatten sich in der Folge mit ihrem Vermögen freigekauft. 

In der diesjährigen zweiten Runde holt bin Salman nun gegen die bürgerliche Opposition aus – gegen die Konservativen und Salafisten auf der einen, die Liberalen auf der anderen Seite. Kaschiert von Reformen, die ihm im Westen – zumindest bis zum Kashoggi-Mord – hohe Popularität versprachen. „Doch wirkliche Reformen, wie politische Reformen, Wahlen, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, gibt ein liberaler saudischer Bürger resigniert zu Protokoll, bleiben wohl auch in Zukunft aus. „Die stellen eine ernsthafte Bedrohung für die oberflächliche Rhetorik dar, mit welcher der Staat uns beschenkt.“