© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/18-01/19 / 21./28. Dezember 2018

Pankraz,
das Kuscheljahr und die ertastete Welt

Unsere Gesellschaft ist „unterkuschelt“, klagt Elisabeth von Thadden in einem kürzlich im Münchner C.H. Beck-Verlag unter dem Titel „Die berührungslose Gesellschaft“ erschienenen Buch. Die von ihr zu Recht beklagte  Berührungsferne erscheint darin in vielerlei Gestalt, vor allem als soziale Einsamkeit. Aber leider, als sinnlich-physiologisches Problem bleibt sie unterbelichtet. Auch für Frau von Thadden ist offenbar das Auge für uns Menschen das bei weitem wichtigste, ja das für unsere Spezies geradezu typische Sinnesorgan.

Aber rührt die gegenwärtige Unkuscheligkeit nicht gerade aus der Überschätzung des Augensinns gegenüber dem Tastsinn? Der Mensch ist doch primär kein Augentier, sondern ein Tasttier! Die neugeborenen Babys jedenfalls sind zunächst einmal reine Weltertaster. Ihr  allererstes Tastorgan sind freilich nicht die Händchen, sondern der Mund. Einige Psychologen schließen daraus, daß die Babys aus der Beobachtung der Mundbewegungen schon irgend etwas „lernen“, Sprachabläufe, Sprachordnungen, doch das ist falsch.

Sprache erlernen kommt viel später. Zuerst geht es für den Neuankömmling um pure Selbstfindung, und weder das Hören noch das Sehen spielen dabei die Hauptrolle, sondern eben das Tasten. Der Tastsinn ist entwicklungsbiologisch der primäre Sinn. Oft heißt es ja, das Auge sei zumindest das wichtigste Wahrnehmungsorgan, aber auch das stimmt schon insofern nicht, als man ohne den Gesichtssinn leben kann, ohne den Tastsinn aber nicht. Leben an seinem Ursprung ist Ertastung, der Tastsinn ist das originäre Scharnier zur Außenwelt und dadurch auch Ursprung des Ich-Gefühls.


Das Baby hat noch kein Ich-Gefühl. Um Innerlichkeit zu gewinnen, ist es unermüdlich damit beschäftigt, allernächste Kontaktreize zu gewinnen, Tastreize. Es grapscht und tastet, mit dem Mund, mit den Händchen, doch auch mit dem ganzen übrigen Körper. Aber ist es denn, fragt sich Pankraz, bei den Erwachsenen wesentlich anders? Auch der Erwachsenenkörper ist eine einzige Tastmaschine. Im Gegensatz zu den anderen Sinnen ist der Tastsinn nicht auf ein bestimmtes, eng umgrenztes Körperorgan eingeschränkt; Tastzellen haben wir überall, mal mehr, mal weniger, aber an sämtlichen Stellen des Körpers.

Der Tastsinn ist auch der einzige Sinn, der aktiv und passiv zugleich ist. Sehen ist aktiv, ich sehe auf etwas, und der Gesehene, so er ein bewußtes Wesen ist, fühlt sich „erblickt“ und reagiert darauf manchmal, wie etwa bei Löwen oder Gorillas, mit äußerster Aggressivität. Schmecken und Riechen sind passiv; man kann nicht irgendwie hinausriechen oder hinausschmecken, sondern muß darauf warten, daß einem Geschmacks- oder Geruchspartikel in die Nase oder zwischen die Zähne geraten.

Auch Hören ist passiv, wenn wir auch mit dem Kehlkopf, der Stimme, die Möglichkeit haben, Hörbares jederzeit in körperlicher Unmittelbarkeit zu erzeugen. Aber der Kehlkopf ist kein Sinnesorgan, und das Ohr erzeugt nichts. Einzig der Tastsinn ist beides, Sender und Empfänger in einem. Indem ich taste, löse ich beim anderen dessenseits den Tastreiz aus und umgekehrt. Der Tastsinn ist der einzige Sinn, der kein Fernsinn ist, dessen Reize sich  also nicht vom Objekt loslösen und zu uns hergeschwebt kommen, um hier erst von Nerv und Gehirn registriert zu werden.

Selbst der scheinbar ebenfalls „unmittelbare“ Geschmackssinn kann da nicht mithalten. Bevor wir die Weihnachtsschokolade, die wir in den Mund genommen haben, schmecken, ihre Süße oder Bitternis registrieren können, spüren wir sie schon, haben sie ertastet. Diese Unmittelbarkeit macht den Tastsinn zum eigentlichen Wahrheitssinn in unserem Gefühlshaushalt. Für ihn gilt am wenigsten, was die Rationalisten den Sinnen insgesamt vorwerfen, nämlich daß sie täuschen, daß sie eine wesenlose Qualität konstituieren, die vom Verstand erst mühsam in Quantität umgesetzt werden müsse.


Beim Tastsinn sind Qualität und Quantität ganz eng zusammengerückt, vielleicht sogar identisch. Der Tastsinn liefert durchaus Qualität, aber er liefert auch Quantität, Dimension, ausmeßbare und schließlich berechenbare Dimension. Von solcher Ursprünglichkeit und Komplexität zeugt ja auch die Etymologie der Sprache, zumindest im Deutschen. Die philosophische Grundeinheit, mit der wir hantieren, heißt bei uns nicht „Idee“ (also Bild), sondern „Begriff‘. Nur das, was ich begreife, anfasse, betaste, gewährt Sicherheit, nur darauf kann ich bauen. Der Tastsinn ist der spezifische Raumsinn. 

Wo Tastung möglich ist, da ist auch Raum, Volumen, Härte, Widerstand, da erfahren wir, daß wir nicht allein auf der Welt sind – und daß wir einander brauchen. Der Tastsinn ist der eigentliche Sinn der Liebe. Wir lieben nur, was wir angefaßt haben. Kein wirklicher Liebhaber traut dem bloßen Augenschein, und zwar völlig zu Recht. Er will „nachsehen“, was kein optischer, sondern eindeutig ein taktiler Vorgang ist.

Für keinen anderen Sinn gibt es so viele semantische Möglichkeiten, um den Wahrnehmungsvorgang zu versprachlichen, und jedem Wort entspricht eine jeweilige Spezifik. Die Wörter sind keine bloßen Metaphern fiir den faktisch immer gleichen Vorgang, sondern sie bezeichnen die realen Möglichkeiten des Ertastens. Der Taster kann „abtasten“, was beileibe kein bloßes „ertasten“ ist. Er kann streicheln, schubsen, zwicken,  er kann „zärtlich“ tasten oder „brutal“ tasten. Solche Differenz leistet das Auge nur sehr ungenügend.

Wenn wir sagen „er sah sie zärtlich an“ oder „er sah sie brutal“ an, so ist das vielleicht nicht nur metaphorisch, sondern es gibt im Blick wahrhaftig eine Zärtlichkeit beziehungsweise Brutalität. Aber wie ungewiß sind hier die Nuancen, dagegen wie deftig und völlig eindeutig beim Tastsinn! 

Kluges Baby! Bevor es den Mund zu beobachten beginnt, weiß es über dieses Prä schon Bescheid. Und daß es den Mund gibt – das glaubt es erst, nachdem es ihn ausführlich abgetastet hat. Es ist das wahre Kuscheltier, von dem wir lernen sollten.