© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/18-01/19 / 21./28. Dezember 2018

Machbarkeit und Entfremdung in der Fortpflanzungsmedizin
Die Utopie wird ausbleiben
Paul Cullen

Markus Hengstschläger ist in Österreich eine wichtige Person: Berater des Finanzministers, Mitglied im Migrationsrat, Radiomoderator, Professor für Genetik und nicht zuletzt Leiter der Genetikabteilung eines „Wunschbaby-Zentrums“. Ein regelrechter „Renaissance man“ der heutigen Zeit also, der den gängigen Trend zur Optimierung aller Lebensbereiche geradezu zelebrieren müßte. Aber bei aller Optimierungsfreude ist selbst Hengstschläger gegen die Verwendung der sogenannten „Genschere“ beim Menschen. Warum? Weil diese Technologie in die Zukunft auf immer hineinstrahlt und Auswirkungen hat, die keiner vorhersagen kann. Dabei ist die Geburt der chinesischen Zwillinge als der ersten Menschen weltweit, deren Erbsubstanz mittels der Genschere möglicherweise geändert worden war, nur das vorläufig letzte Glied in einer langen Kette von übertriebenen Versprechungen der Fortpflanzungsmedizin, ein Gebiet, das wie kein zweites die Irrwege und Utopien der Postmoderne reflektiert.

„Kinder kriegen die Leute immer“ soll Konrad Adenauer bei seiner großen Rentenreform 1957 gesagt haben, als er die Kapitaldeckung durch das Umlageverfahren ablöste. Diese Aussage erwies sich als fataler Irrtum. Allerdings nicht nur für Deutschland, sondern auch weltweit. Die Bevölkerungsexplosion, von der in schriller Hysterie in den 1970er Jahren gewarnt wurde, findet nicht statt. Laut seriösen Prognosen etwa der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung von heute sieben auf maximal neun bis zehn Milliarden Menschen ansteigen und danach schnell wieder abfallen. Nach UN-Vorausberechnungen wird am Ende unseres Jahrhunderts Sambia mit nur 2,8 Kindern pro Frau das gebärfreudigste Land der Welt sein. Zu dieser Zeit wird fast kein Land mehr die sogenannte „Ersatzrate“ von 2,1 Kindern pro Frau, bei der die Bevölkerung stabil bleibt, erreichen. Somit ist die Entwicklung, die sich hierzulande mit einer Geburtenrate von derzeit etwa 1,5 Kindern pro Frau zeigt, nur der Vorbote eines Trends, der bald überall zu beobachten sein wird.

Der Grund für die fallende Fruchtbarkeit ist nicht völlig geklärt und dürfte komplex sein. Wirtschaftliche, soziologische, aber auch biologische Faktoren könnten eine Rolle spielen. An fehlender prinzipieller Bereitschaft der Menschen, Kinder in die Welt zu setzen, scheint es jedenfalls nicht zu liegen: Laut Eurostat, dem statistischen Dienst der Europäischen Kommission, wünschen sich sowohl Männer als auch Frauen in fast allen europäischen Ländern mehr als zwei Kinder. Nur bekommen die Menschen sie nicht. Deutschland ist in Eu­ropa beileibe kein Einzelfall und wird in seiner mauen Fruchtbarkeit noch von Griechenland, Italien, Kroatien, Malta, Polen, Serbien, der Slowakei, Spanien, Ungarn und Zypern unterboten. Trauriges Schlußlicht ist Portugal, ein Land, in dem mit 1,2 Kindern pro Frau jede neue Generation nur etwa halb so groß ist wie die vorhergehende.

Die Bedeutung der Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin reicht weit über Angebote an Menschen, die eigene Kinder nicht haben können oder wollen, hinaus. Es geht um den absoluten Kern unseres Rechtsverständnisses, ja unserer Gesellschaftsordnung.  

In Anbetracht dieses katastrophalen Zustands scheint die Stunde der Fortpflanzungsmedizin gekommen zu sein. Diese beschäftigt sich laut eigener Beschreibung mit den Grundlagen, der Kontrolle und Störungen der menschlichen Zeugungsfähigkeit sowie mit der natürlichen und assistierten Fortpflanzung. So könnte man erwarten, daß die Fortpflanzungsmedizin sich primär der Erforschung und Beseitigung der Ursachen für massenhaft ungewollte Kinderlosigkeit widmet. Beispielsweise wird seit über vierzig Jahren und weltweit eine drastische Abnahme der Spermienzahl und -qualität beobachtet, deren Grund völlig unbekannt ist. Dieses Problem zu erforschen und zu lösen wäre zweifellos ein lohnendes Unterfangen. Doch die Untersuchung und Linderung solcher Störungen steht und stand nie im Fokus dieses Faches. Auch lag der Schwerpunkt der Fortpflanzungsmedizin nie auf der Unterstützung der natürlichen Fortpflanzung, sondern von vornherein und fast ausschließlich auf Methoden der künstlichen Reproduktion, insbesondere auf der Befruchtung im Reagenzglas, auch In-vitro-Fertilisation (IVF) genannt.

Somit kann der Anfang der modernen Fortpflanzungsmedizin exakt auf den 25. Juli 1978 gelegt werden, den Tag, als das erste „Retortenbaby“, Louise Joy Brown, in Oldham bei Manchester in Nordengland zur Welt kam. Das erste IVF-Kind in Deutschland wurde 1982 in der Universität Erlangen geboren. Der nicht-ärztliche Physiologe Robert Edwards wurde für die Entwicklung dieser Technik 2010 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Inzwischen wird in Deutschland ein Kind von sechsundsechzig mittels IVF gezeugt, in Großbritannien bereits eins von zwanzig. Allgemein als großer Fortschritt gefeiert, werden die Gefahren der Befruchtung im Reagenzglas sowohl von der Fach- wie auch von der Laienpresse heruntergespielt, während die Chancen oft übertrieben werden.

Aber IVF für Paare anzubieten, die an ungewollter Kinderlosigkeit leiden, war nur der Anfang einer inzwischen boomenden und längst globalen Fruchtbarkeitsindustrie. Vom „social egg freezing“, dem Einfrierenlassen von Eiern etwa in der Karriereaufbauphase, um eine Schwangerschaft jenseits der natürlichen Altersgrenze zu ermöglichen, über Leihmutterschaft bis hin zur vorgeburtlichen Selektion mittels der sogenannten „Prä-Implantationsdiagnostik“ und versuchter Optimierung mittels Genschere scheinen die Möglichkeiten unbegrenzt zu sein. Sowohl Spermien als auch Eizellen lassen sich in Online-Börsen bestellen, wo auch Verträge mit Leihmuttern abgeschlossen werden. Einige Angebote nutzen sogar eine Art Arbitrage zwischen verschiedenen geographischen Regionen: die knifflige Befruchtung in einem teuren High-Tech-Land, das Austragen in einem Billiglohnland mit anschließendem Einfliegen der Leihmutter in ein reiches Land, um das Risiko der Geburt zu minimieren. In einer Welt, in der ein Kind bis zu fünf Eltern haben kann (zwei gleich- oder gegengeschlechtliche rechtliche Eltern, der biologische Vater als Spermienspender, die biologische Mutter als Eispenderin sowie die Leihmutter), sind rechtliche Probleme programmiert – von psychologischen oder sozialen ganz zu schweigen.

Ein weiteres Problem der Befruchtung im Reagenzglas besteht darin, daß in der Regel mehr Embryonen gezeugt werden als implantiert werden können. Diese „überzähligen“ Embryonen werden in der Regel in flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius eingefroren; eine Situation, die das deutsche Embryonenschutzgesetz eigentlich vermeiden wollte. Wie viele solcher verwaisten Embryonen weltweit in Stickstofftanks dämmern, ist nicht bekannt, es dürfte sich aber inzwischen um eine siebenstellige Zahl handeln.

Die Bedeutung dieser Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin reicht aber weit über diese Angebote an Menschen, die eigene Kinder nicht haben können oder wollen, hinaus. Es geht nämlich um den absoluten Kern unseres Rechtsverständnisses, ja unserer Gesellschaftsordnung, nämlich die prinzipielle Unverfügbarkeit des menschlichen Individuums. Dieser Grundgedanke war den Menschen im Alten Rom oder Athen völlig fremd und wird von vielen anderen Kulturen, etwa der konfuzianischen, heute noch abgelehnt. Die Vorstellung, am klarsten formuliert durch Immanuel Kant, daß der Mensch „immer Zweck an sich und niemals bloß Mittel zum Zweck“ ist, steht der Grundannahme der Fortpflanzungsmedizin, daß der Mensch Verfügungsmasse ist, die man beliebig manipulieren, ja kaufen und verkaufen kann, diametral entgegen.

So verwundern auch die wilderen Außenbereiche dieser Technologie nicht, etwa die Erschaffung von sogenannten Chimären, Mischwesen, hergestellt aus den Embryonen von Schweinen und Menschen, wie im Jahr 2017 von der Gruppe um den Spanier Juan Carlos Izpisúa Belmonte berichtet wurde. Daß diese Forschung auch aus ökonomischen Gründen betrieben wird, kann man daran sehen, daß Belmonte vom spanischen Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerb (Mineco) und nicht etwa vom Wissenschaftsministerium finanziert wurde.

Der Sündenfall geschah bereits, als in der vorgeburtlichen Diagnostik das Konzept akzeptiert wurde, daß über Menschen prinzipiell verfügt werden kann, daß es akzeptabel ist, solche, die bestimmte „Standards“ nicht erfüllen, vor ihrer Geburt zu „entsorgen“.

So entsteht durch die Fortpflanzungsmedizin, oder besser gesagt, die Fortpflanzungsindustrie, eine totale Verzweckung des Menschen, die sogar die Sklaverei übertrifft. Besonders perfide hierbei ist die Bemühung eines Konzepts der scheinbaren Autonomie und der Selbstbestimmung, die aber durch das komplette Absprechen der Selbstbestimmung, ja der Lebensrechte von völlig Wehrlosen erkauft wird. So wird auf eine grundsätzliche Art und Weise die Beziehung zwischen Menschen zu einer reinen Transaktion, zu einer puren Machtausübung, degradiert.

Das Interessanteste an dem Bericht über die chinesischen Zwillinge ist also nicht, daß zum ersten Mal mittels der Genschere manipulierte Babys zur Welt gekommen sind. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Technologie beim Menschen angewendet würde, auch wenn der vorliegende Bericht sind nicht bestätigen lassen sollte. Viel wesentlicher ist die Kritik, die von den meisten Medien und vielen Wissenschaftlern geäußert wurde. So sagte etwa Hans R. Schöler, Deutschlands führender Stammzellenforscher, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, daß er und die anderen Vorstandsmitglieder der Internationalen Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) „diese Sachen verdammt“ haben. Aber nicht aus prinzipiellen Überlegungen wird sie verdammt, sondern „weil man (…) die Nebenwirkungen noch nicht erforscht hat und die gesellschaftliche Diskussion nicht durchgeführt hat“.

Diese Kritik wirkt im höchsten Maße heuchlerisch. Denn in „dieser Sache“ ist der Sündenfall bereits vor langer Zeit geschehen, als im Rahmen der Fortpflanzungsmedizin und der vorgeburtlichen Diagnostik das Konzept akzeptiert wurde, daß über Menschen prinzipiell verfügt werden kann, daß es akzeptabel ist, sie in verschiedene Güteklassen einzusortieren und solche, die bestimmte „Standards“ nicht erfüllen, vor ihrer Geburt zu „entsorgen“. Wer diese Logik akzeptiert, muß auch mit der Vorstellung leben, daß Versuche, das Erbgut des Menschen gezielt zu „verbessern“, moralisch nicht zu beanstanden sind. So ist die Empörung vieler nicht nur Heuchelei, noch schlimmer: sie ist unlogisch.

Diese Einschätzung ist übrigens unabhängig davon, ob solche „Verbesserungsversuche“ sich nicht am Ende als utopisch erweisen. Unser Verständnis der Genetik des Menschen ist alles andere als vollkommen. Vor einem halben Jahrhundert meinte jeder zu wissen, was ein Gen ist. Heute existiert keine allgemeingültige Definition mehr. Zu komplex sind die Interaktionen in der Erbsubstanz geworden. Auch die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2003 hat nicht die erhoffte Klarheit gebracht. Ob eine Genveränderung „gut“ oder „schlecht“ ist, läßt sich nicht immer festlegen. So ist eine Trägerschaft für die Mutation im Blutfarbstoff Hämoglobin, die zur Sichelzellenanämie führt, mit Widerstand gegen Malaria assoziiert.

Selbst bei Mikroorganismen, deren Erbsubstanz in vielen Tausenden, vielleicht sogar inzwischen in Millionen von Versuchen gezielt geändert worden ist, wurde bisher keine Veränderung beschrieben, die zu einer „Verbesserung“ im Sinne einer erhöhten Überlebensfähigkeit des Organismus in der freien Wildbahn geführt hat. Auch die großen Versprechungen der Gen- und Stammzelltherapie, die in den 1990er und 2000er Jahren gemacht worden sind, sind bisher weitestgehend unerfüllt geblieben. Die Verwirklichung der Utopie wird also – wie so oft – ausbleiben. Die Dystopie dagegen, die haben wir schon heute.






Prof. Dr. Paul Cullen, Jahrgang 1960, ist Labormediziner, Internist und Molekularbiologe. Er leitet ein Medizinlabor und ist außerordentlicher Professor für Laboratoriumsmedizin an der Universität Münster. Seit sechs Jahren ist er Vorsitzender des Vereins „Ärzte für das Leben“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Pränataldiagnostik („Zeitgeistige Selektion“, JF 3/16).

Foto: Im Laboratorium erschafft Wagner den Homunculus („Es wird ein Mensch gemacht“) – in Gegenwart von Mephistopheles (Szene aus Goethes „Faust. Der Tragödie 2.Teil“, 2. Akt,  Holzstich um 1880/90 nach Zeichnung von Franz Simm: Die Dystopie ist schon heute Wirklichkeit