© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Nicht mal die halbe Miete
Wohnungsnot in deutschen Ballungszentren: Für weniger Begüterte wird es eng
Martina Meckelein

In der Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1919 wurde im Artikel 155 erstmals das staatliche Ziel festgeschrieben, „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung“ zu sichern. Davon steht im Grundgesetz kein Wort mehr. Wie vorausschauend die Weimarer Verfassung war, ist aktuell im Land zu beobachten. Statt Wohnungen für alle gibt es hundert Jahre nach der Formulierung des Artikels Wohnungsknappheit und sogar -not. Zwar nicht allerorten, aber in den Ballungszentren. Eine Bestandsaufnahme.

2015 zählten die Statistiker rund 40,8 Millionen Privathaushalte in Deutschland. „Den häufigsten Haushaltstyp stellten dabei die Alleinlebenden, sogenannte Ein-Personen-Haushalte mit einem Anteil von etwa 41,4 Prozent dar“, so das Statistikportal Statista. 72,4 Prozent der Singles leben zur Miete. Insgesamt wohnen 57 Prozent der Deutschen zur Miete. Mehrpersonenhaushalte zahlen durchschnittlich „etwas mehr als ein Viertel“ des Nettoeinkommens für die Kaltmiete, bei Ein-Personen-Haushalten liegt die „Mietbelastungsquote sogar bei knapp mehr als 30 Prozent“. Aber das ist eben nur das statistische Mittel.

„Ich zahle 417, 37 Euro warm“, sagt der 23jährige Callcenter-Mitarbeiter Richard Heine gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Das ist ein bißchen weniger als die Hälfte meines Nettoeinkommens.“ Der junge Mann hat in Berlin zwei Jahre nach einer bezahlbaren Wohnung gesucht. „Zuerst habe ich auf private Immobilienanzeigen reagiert, doch da merkte ich schnell, daß ich keine Chance habe. 20 Menschen vor der Tür, 20 in der Wohnung – das konnte ich vergessen. Die würden doch nie an mich vermieten. Ich habe mir zig Wohnungen angeschaut. Meine Mutter sagte dann, geh zu einer Genossenschaft oder einer großen Immobilienverwaltung.“ 

Doch der Telefonist hatte noch ein weiteres Problem: „Ich brauchte einen WBS. Den Schein bekommt man beim Bürgeramt. Bei mir hat es sechs Monate gedauert, dabei soll die Bearbeitung in zwei Monaten abgeschlossen sein.“ Er habe dann „die erstbeste Wohnung genommen, die ich auch sicher bezahlen konnte“. 

Heute lebt Heine nahe dem S-Bahnhof Hohenschönhausen in einer Ein-Zimmer-Wohnung. DDR-Neubau, 32 Quadratmeter, Wannenbad. „Die Küche war leer, die richtete ich mir für 250 Euro selbst ein.“ Was für einen großen Teil der Bevölkerung eine Kleinigkeit ist – für Menschen wie Heine sind 250 Euro für eine gebrauchte Küche existentiell. Die müssen erst einmal erspart werden.

Ein Blick auf die Internetseite Immobilienscout 24 zeigt eine erstaunliche Schere zwischen Otto Normalverbraucher und dem Millionär: 3.484 Mietwohnungen werden am Donnerstag, den 20. Dezember 2018 um 11.55 Uhr in Berlin angeboten. Die billigste kostet 223 Euro und ist 30,35 Quadratmeter groß, die teuerste kostet 16.000 Euro pro Monat und mißt 456 Quadratmeter. Die Angebote in diesem Segment überschlagen sich mit Beschreibungen wie: einzigartig, repräsentativ, Premium, Top-Lage, High-End. In München zahlt der Mieter dafür knapp 20.000 Euro im Monat, in Frankfurt 18.000 Euro – immer pro Monat.

„Der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum bleibt hoch“

Für das zurückliegende Jahr schätzte die BAG-Wohnungslosenhilfe die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland auf 1,2 Millionen. Das wäre ein Anstieg zu 2017 um 350.000 Personen und damit um 40 Prozent. In diesen Zahlen sind auch Asylbewerber, Flüchtlinge und meist osteuropäische Obdachlose enthalten. Der GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V. in Berlin veröffentlichte im November eine von ihm in Auftrag gegebene Studie über Wohntrends für 2035. Darin heißt es: „Es gibt mehr Wohlstand, aber auch ein zunehmendes Armutsrisiko.“ Zwar sei die Arbeitslosenquote seit 2009 kontinuierlich von 8,1 Prozent auf 6,7 Prozent gesunken, parallel dazu seien gerade die Bruttolöhne der Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.

Allerdings gelinge es nicht der gesamten Bevölkerung, am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben. „Das Armutsrisiko ist in Deutschland von 14,6 Prozent im Jahre 2009 kontinuierlich auf 15,7 Prozent im Jahr 2016 gestiegen, insbesondere auch das Risiko für Altersarmut. Damit steigt auch die Wohnkostenbelastung, insbesondere in den Großstädten. Überdurchschnittliche Belastungen weisen Haushalte mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende sowie Seniorenhaushalte auf. Der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum bleibt hoch.“

In der Bundesrepublik stand der soziale Wohnungsbau auf drei Säulen: vom Staat kreditierte und so geförderte Mietwohnungen, Genossenschaftswohnungen und Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums durch Kredite. In einer Studie des Pestel-Instituts aus Hannover über die Bautätigkeit zur Ermittlung des Wohnungsbaubedarfs 2015 werden 400.000 Wohnungen jährlich genannt. Die Bautätigkeit betrug allerdings nur 247.000 Wohnungen. Das sind nur 62 Prozent. Von der Zielvorgabe, 140.000 Neubauwohnungen zu bauen, wurden nur 33 Prozent, also 46.000 Wohnungen, erreicht. Noch schlimmer sieht es im sozialen Wohnungsbau aus. Benötigt wurden 80.000 Wohnungen, gebaut wurden 14.700, also 18 Prozent. Zwischen 2002 und 2013 sank der Bestand an Sozialwohnungen von 2,5 Millionen auf 1,5 Millionen.

Das Europäische Zentrum für Wirtschaftsforschung und Strategieberatung Prognos berichtet in der Studie „Wohnraumbedarf in Deutschland und den regionalen Wohnungsmärkten“ von 2017: „Bezogen auf den Geschoßwohnungsbau (Wohnungen in Mehrfamilienhäusern) haben Sozialwohnungen damit einen Marktanteil von nur noch 7 Prozent (2002: 12 Prozent). In den Jahren 2012 bis 2015 wurden insgesamt 156.000 Mietwohnungen gefördert. Im selben Zeitraum lief jedoch bei 297.000 Wohnungen die Belegungsbindung aus, so daß das Angebot an Sozialwohnungen trotz steigender Nachfrage weiter zurückgegangen ist.“

Bund, Land und Kommunen kommen ihren Aufgaben, Rahmenbedingungen zu schaffen, um bezahlbaren Wohnraum möglich zu machen, nicht nach. Ganz im Gegenteil: Irrwitzige Dämmverordnungen, horrende Notargebühren und absurde Bauvorschriften hemmen die Bauwirtschaft.

Geschäftsideen sind gefragt. Selbst Wochenendhäuser geraten ins Visier von Immobilienkäufern, die hoffen, daß die kleinen Grundstücke oder Siedlungen mit beschränktem Wohnrecht bald als Bauland für dauerhaftes Wohnen ausgeschrieben werden. Für einige Datschenbesitzer ergeben sich dadurch auch neue Chancen. Die gestiegene Nachfrage erweist sich als willkommene Geldspritze für den Lebensabend. „Meine Rente ist leider nicht so prall“, erzählt ein Brandenburger Datschenbesitzer. „Beides – meine Wohnung und die Datsche – geht nicht mehr. Und da ich in keine kleinere Wohnung ziehen will, muß ich das Häuschen halt leider verkaufen.“

Propagiert werden zur Zeit immer häufiger Kleinst-Häuser mit rund 40 Quadratmetern Wohnfläche. Zum An- und Ausbau bieten sich containerartige Modulhäuser an. Die Preise für die Mini­häuser beginnen ab 30.000 Euro. In Deutschland wird allerdings auch für diese Häuser eine Baugenehmigung gefordert.

Gute Wohnungen innerhalb von Stunden weg

Aber auch der Wohnungssuchende muß erfinderisch sein. Derzeit leben 4,46 Millionen Deutsche in einer Wohngemeinschaft, berichtet die Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA). 1,51 Millionen von ihnen seien zwischen 20 und 29 Jahre alt. So wie Billy Neumann (24). Der Einzelhandelskaufmann will mit einem Kumpel zusammenziehen. „Wir suchen seit drei Monaten, gefunden haben wir noch nichts.“ 500 Euro will jeder der jungen Männer in die gemeinsame Kasse legen. „Das sind 50 Prozent meines Einkommens, den Rest brauche ich für Essen, Kleidung und die Monatskarte.“ 1.000 Euro warm – doch auch dafür ist es nicht so leicht, etwas in den gefragten Berliner Stadtteilen Mitte, Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder Friedrichshain zu finden. „Auf Internetseiten schaue ich erst gar nicht“, sagt Neumann gegenüber dieser Zeitung. „Erstens sind die guten Wohnungen innerhalb von Stunden weg und zweitens herrscht da viel zu viel Konkurrenz.“ Er hofft auf Tips von Freunden und Bekannten.

In der Zwischenzeit entwickelt die Politik weiter Strategien, den Bürger zu entlasten. Leider werden aber die falschen Bevölkerungsgruppen angesprochen. So berichtete die Boulevardzeitung B.Z. am 18. Dezember, daß in Berlin nur wenige Anträge auf Baukindergeld gestellt würden: „Drei Monate nach Einführung haben in der Hauptstadt erst 725 Familien den Zuschuß für den Erwerb von Wohneigentum beantragt.“

Harsche Kritik am Baukindergeld äußerte das Handelsblatt: „An dieser Subvention ist alles problematisch. Sie führt zu großen Mitnahmeeffekten. Wer es sich überhaupt leisten kann zu bauen, hätte dies auch ohne die staatliche Hilfe getan. Jetzt pampern Durchschnittsverdiener die obere Mittelschicht, damit die sich noch wenigstens den Traum von den eigenen vier Wänden erfüllen kann. Sozial geht anders.“

Callcenter-Mitarbeiter Richard Heine will wieder näher in die Stadt ziehen. „Aber innerhalb des S-Bahnrings sind die Wohnungen zu teuer.“ Nicht nur in Berlin, auch in Städten wie Hamburg oder Stuttgart bedeutet das, daß die schlechter Verdienenden in die Außenbezirke verdrängt werden. Ein schleichender Prozeß, der dazu führt, daß ganze Stadtteile kippen. Ein Blick nach Frankreich zeigt uns womöglich unsere Zukunft. Sie heißt Banlieue. Eine Lösung des Problems scheint die Politik nicht zu haben.

(Grafiken siehe PDF)