© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Grüße aus Brüssel
Tod eines Eurokraten
Albrecht Rothacher

Martin, das erfuhr ich erst bei der Bestattungszeremonie, war der einzige Sohn einer britischen Mutter und eines deutschen Kriegsgefangenen aus Dresden, der in England geblieben war. Wir hatten Anfang der 1980er Jahre bei der EU-Kommission angeheuert und waren Teil einer lustigen anglo-irisch-deutschen Clique von Jungbeamten, die es in Belgiens Hauptstadt verschlagen hatte. Die Besäufnisse fanden regelmäßig am Freitagabend statt und endeten mit einer halbtägigen Unterbrechung irgendwann Sonntag morgens. 

Martin war immer zurückhaltend, freundlich, gutaussehend, besser gekleidet und schien als Sonnyboy immer die hübschen Praktikantinnen abzubekommen. Nach zwei, drei Jahren stabilisierte sich bei den einen die berufliche und private Existenz mit einem intakten Familienleben, während die anderen als entwurzelte Expatriates langsam aber sicher unter die Räder kamen.

Ohne intakte Familie gehst du im entwurzelten europäischen Narrenschiff unter. 

Ich hatte Martin aus den Augen verloren, und als mich die Nachricht seines Todes mit nur 59 Jahren erreichte, war dies ein Schock. Er war der erste unserer Jahrgangskameraden. Die Lichtbildschau im Krematorium zeigte fröhliche Jugend-, Ferien- und Familienbilder, Bergwanderungen, Flirts am Strand, Grillen am Waldrand, Ski in den Alpen, Urlaube in Mexiko, Thailand und Australien. Ein liebevoller junger Vater, der seinen Sohn badete und ihn im Rückengestell trug. Ein erfülltes, glückliches Leben? „Alles nicht wahr“, flüsterte mir ein Nachbar zu.

Beruflich hatte er den Aufstieg zum höheren Beamten in den Generaldirektionen für Landwirtschaft und Energie geschafft, wo er zum Spezialisten für die nachhaltige Energieentwicklung in der Ägäis wurde. Ein Youtube- Video zeigt ihn noch bei einem engagierten Vortrag. Bei der von ihm gewünschten Trauerfeier gab es keinen Pfarrer. Statt dessen stellten seine drei Lebensabschnittspartnerinnen schluchzend sein Leben dar – und deuteten auch sein Scheitern an. 

Etwa zehn Leute unserer alten Truppe waren auch erschienen. Einer hatte es zum Generaldirektor gebracht. Andere Frühpensionierte sahen, zahnlos und unrasiert, aus wie Obdachlose. Unausgesprochen war unsere Einsicht: Ohne intakte Familie gehst du im entwurzelten europäischen Narrenschiff und seiner mechanisierten Bürokratie gnadenlos vor die Hunde. Unsere Frauen und Kinder haben uns gerettet. Martin hatte dieses Glück nicht.