© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Hinter mir lauert der Abgrund
Skulpturen als Sinnbilder von Tragödien: Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt den Künstler Wilhelm Lehmbruck als Bewahrer des Ewig-Menschlichen
Felix Dirsch

Empfindsame Geister haben sich lange vor Ende des Ersten Weltkrieges gefragt, welche Auswirkungen das Grauen auf den Schlachtfeldern auf das Menschsein erkennen läßt. Allen voran Künstler bemerkten die fundamentale Zäsur. Zu den hochsensiblen unter ihnen zählt der Bildhauer, Graphiker und Medailleur Wilhelm Lehmbruck (1881–1919). Besonders seine Plastiken zeigen in beeindruckender Weise, wie die Ereignisse von 1914 bis 1918 das Bild vom Menschen veränderten. Lehmbruck hatte in seiner Zeit als Sanitäter an der Front viele menschliche Körper in Haltungen gesehen, die häufig andere waren als die in Friedenszeiten. Gestürzte und (tagsüber) Liegende erhielten nunmehr einen überproportional hohen Anteil in seinem Werk.

Der Stuttgarter Ausstellungsbesucher kann die Plastik auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs nicht übersehen: „Die große Sinnende“, entstanden wohl im Atelier Lehmbrucks in Paris 1913, ist noch aufrecht dargestellt. Die Haltung und die Art der Darstellung stehen in einer Kontinuität früherer Exponate wie der „Großen Stehenden“ von 1910 und der „Großen Knienden“ von 1911. Gut zu erkennen ist hier, daß dem Meister die Proportionen wichtig sind. Die Präsentation ruft klassisch-antike Figuren in Erinnerung, von denen sich Lehmbruck jedoch emanzipieren will. Die Figur in ihrer zurückhaltenden Schlichtheit mit dem leicht geneigten Antlitz hatte bereits zu Lebzeiten des mit knapp vierzig Jahren freiwillig aus dem Leben Geschiedenen auf vier Ausstellungen für Furore gesorgt. Im März dieses Jahres jährt sich sein Todestag zum hundertsten Mal.

Viele Werkstücke blieben bewußt unvollendet

Die Skulptur „Emporsteigender Jüngling“ aus dem Jahre 1914 zählt zu den herausragenden der Ausstellung. Der Zeigefinger weist hinter den Rücken des Jünglings – wohl eine Anspielung auf Johannes den Täufer, der auf denjenigen, der nach ihm kommt, aufmerksam machen will. Im nachhinein wird man die Geste jedoch eher als Anspielung auf den Irrweg deuten, der für Lehmbruck offenkundig war und schließlich in den Abgrund führte. Denn auch Lehmbrucks Warnrufe blieben ungehört.

Die Botschaft, die eine Skulptur wie „Der Gestürzte“ aussendet, ist eine andere als die der aufrecht stehenden Figuren. Sie entstand in Berlin 1915/16. Eine jugendliche, männliche Gestalt ist auf die Knie gesunken, der Kopf berührt den harten Boden. Die linke Hand kann dem Haupt keinen Schutz geben. Die Geste soll wohl Verzweiflung andeuten. Während die „Sinnende“ noch vergleichsweise üppige Formen aufweist, sind Körper und Kopf dieses Gebeugten denkbar schmal. Der Mann ist zu schwach, um zu kämpfen. Darüber hinaus ist das Schwert zerbrochen. Es sieht nicht so aus, als könnte sich der Gestrauchelte einfach wieder erheben. Welch ein Unterschied zu den nackt-martialischen Körpern, die der Architekt und Bildhauer Arno Breker modelliert hat. Nicht zuletzt sein evidenter Kontrast zu NS-Vorzeigekünstlern war ausschlaggebend dafür, daß Lehmbruck im Dritten Reich rasch der Verfemung anheimfiel.

Die Stuttgarter Präsentation zeigt aber nicht nur stolz den Bestand der Staatsgalerie an Lehmbruck-Arbeiten (die meisten Werke des Künstlers finden sich ohnehin im Duisburger Lehmbruck-Museum); vielmehr geht es um das für den Künstler zentrale Thema „Variation und Vollendung“. Lehmbruck hinterließ viele Werkstücke, die unvollendet erscheinen. Stets hat er jedoch um Perfektion gerungen. Immer wieder beginnt er die Bearbeitung neu. Er reduziert, will zum Wesentlichen vorstoßen. Gern experimentiert er bei den gleichen Gußformen mit unterschiedlichen Materialien. In vielen Fällen verweigert er – bewußt – den Abschluß. 

Distinkte Materialien bringen einen unterschiedlichen Ausdruck mit sich. So ist der Torso „Mädchen, sich umwendend“ in Gips und Steinguß modelliert, der „Kopf der Schreitenden (Mädchenkopf, sich wendend)“ in Terrakotta und Steinguß. Das „Sitzende Mädchen“ wird ebenfalls variiert dargeboten in Stuck wie in Bronze. Die Ausdrucksformen sind verschieden, was jedoch nur auffällt, wenn man bedächtig vor den Exponaten verweilt. Das erfordert vom Besucher einige Geduld.

Die Ausdrucksformen Lehmbrucks changieren eigentümlich zwischen Individualität und Verallgemeinerung. Sein Schaffen bezieht sich auf die Gegenwart, will aber gleichzeitig den Aspekt des Ewigen einfließen lassen. Es ist zeitgebunden – und wieder nicht. „Skulptur ist das Wesen der Dinge, das Wesen der Natur, das was ewig menschlich ist“, notiert der Sohn eines Bergmannes. Der Körper des Menschen lebt im Irdischen, reckt sich aber dem Bezirk der Metaphysik entgegen. Sein früher Biograph August Hoff erkennt einen Trend zur „heimlichen Gotik“.

Weltanschauungsübergreifend ist eine Klage in seiner Epoche verbreitet, in die auch Lehmbruck einstimmt: die vom verderblichen Einfluß des Materialismus, ohne den es die Katastrophe des Ersten Weltkrieges nicht gegeben hätte. Der empfindsame Zeitgenosse beabsichtigt im Gegensatz dazu, die seelischen Kräfte aufzuwerten. Sie werden als wesenhaft für den Menschen herausgestellt.

Vorteilhaft für den Besucher ist, daß hier eine Auswahl wichtiger Arbeiten Lehmbrucks auf überschaubarem Raum geboten wird. In vier Räumen sind nicht nur die Skulpturen zu bestaunen, sondern auch etliche Papierarbeiten. Weniger ist manchmal mehr. Diese Weisheit trifft auch hier zu. 

Die Lehmbruck-Ausstellung ist bis zum 24. Februar in der Stuttgarter Staatsgalerie, Konrad-Adenauer-Str. 30-32, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 0711 / 470 40-0

 www.staatsgalerie.de