© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Das Porträt des werdenden Künstlers als junger Mann
So verfrüht wie enttäuschend: Eine Biographie zum 200. Geburtstag Theodor Fontanes / Briefwechsel mit Theodor Storm
Dirk Glaser

Die neue Fontane-Biographie, mit 800 Seiten von epischem Ausmaß, stammt von einer promovierten Germanistin, die außerhalb des bundesdeutschen Universitätsbetriebs steht. Denn Regina Dieterle, Jahrgang 1958, unterrichtet an einer Züricher Kantonsschule und ist bisher vorwiegend mit einer Anzahl „nebenberuflich“ entstandener Spezialstudien zu Leben und Werk Theodor Fontanes (1819–1898) auf den Plan getreten.

Für die Erschließung neuer Deutungshorizonte ist jedoch dieser externe Standort, der Blick von außen, in der Regel von Vorteil. Dieterles etwas voreilig anmutendes Geschenk zum erst Ende 2019 zu feiernden 200. Geburtstag des letzten unter den deutschen Erzählern des Realismus, der heute noch gelesen wird, bestätigt diese Regel. Zumindest bis zur 1840 endenden Ausbildung des Berliner Apothekerlehrlings, dem frühen Lebensabschnitt, dem ein generöses Fünftel des Bandes gewidmet ist. Kindheit und Jugend des Schriftstellers und Journalisten sind so ausführlich zuletzt 1968 von Hans-Heinrich Reuter, dem  DDR-Zampano der Fontane-Forschung, dargestellt worden. Und über dessen minutiöse Rekonstruktion geht Dieterle aber noch einen Schritt hinaus. 

Ihre Arbeit setzt deswegen nicht in herkömmlicher Manier mit der Neuruppiner Geburt des Helden, am 30. Dezember 1819, ein. Sondern mit den Anfangssätzen aus „Vor dem Sturm“, dem Debüt des knapp Sechzigjährigen  als Romanautor: „Es war Weihnachten 1812, heiliger Abend. Einzelne Schneeflocken fielen und legten sich auf die weiße Decke, die schon seit Tagen in den Straßen der Hauptstadt lag.“

Preußische Erhebung gegen die französische Besetzung

Zu Weihnachten 1812 bricht der in der preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin studierende Gutsbesitzersohn Lewin von Vitzewitz zu einer nächtlichen Schlittenfahrt ins heimatliche Oderbruch auf. Was ihn und den Leser dort erwartet, ist kein Winteridyll. Vielmehr führt ihn der Erzähler mitten hinein in die lokalen Vorbereitungen zum Befreiungskrieg gegen Napoleon, dessen Versuch, Rußland zu erobern, soeben in einer katastrophalen Niederlage geendet war. 

Für Fontane seien die in diesem Erstling, dem „Roman aus dem Winter 1812 auf 13“, geschilderten Anfänge der preußischen Erhebung gegen die seit 1806 andauernde französische Besetzung „ureigenster Stoff“ gewesen. Darin verdichtete sich die eigene Familien- und die Geschichte Preußens. Louis Henri Fontane, sein Vater, meldete sich im März 1813 als 17jähriger freiwillig und machte den Feldzug bis zur Vertreibung der Franzosen mit.

Aus den frühesten Kindheitserzählungen blieb dem Sohn zudem in Erinnerung, was Emilie Labry, seine Mutter, wie der Vater aus alteingesessener Hugenottenfamilie, an Schrecken überlieferte, die sie erlebte, als sie, 14 Jahre jung, am 24. August 1813 auf das Schlachtfeld von Großbeeren eilte, um Verwundeten zu helfen und Sterbenden beizustehen. So geriet der kleine Fontane in einen elterlichen Erzählstrom, der  mit dem kollektiv Imaginären, der großen Erzählung von Preußens Niedergang, Erhebung und Sieg, den Prozeß seiner Identitätsbildung modellierte. Kein Wunder, daß der Schüler „überdurchschnittliches Interesse“ an der Vergangenheit entwickelte und als Sextaner sich mit darauf vorbereite, „Professor der Geschichte“ zu werden.

Was in Elternhaus und Schule begann, mentale Vergemeinschaftung, soziale Integration, Verwurzelung im Überlieferungsraum, setzt sich in der Lehrzeit fort, die Fontane in der Apotheke „Zum weißen Schwan“ absolvierte. Die gehörte Wilhelm Rose und lag im Herzen von Alt-Berlin, im Quartier zwischen Schloß und Alexanderplatz, wo Preußens Hauptstadt noch spätmittelalterliche Züge aufwies.

Mit viel Sinn für topographische, lokalhistorische und biographische Details vergegenwärtigt Regina Dieterle, wie der hinreichend disponierte Fontane im Hause Rose weiter hineinwächst in das Milieu der preußischen Führungsschicht, in das sein Großvater als Kabinettssekretär der Königin Luise bereits zeitweise einen Fuß gesetzt hatte. Berlin, noch längst nicht Metropole der Kaiserzeit, erscheint hier als größeres Dorf, wo in den oberen Etagen jeder jeden kannte. Bürgerlicher Mittelstand, Spitzen der Verwaltung, Militäradel, Gelehrte, Künstler waren überdies vielfach verwandt und verschwägert. So begleitete etwa ein Bruder von Fontanes Lehrherrn, ein Professor für Mineralogie, Alexander von Humboldt 1829 auf eine Rußland-Expedition, und Roses Apotheke erhielt ihre Form durch keinen Geringeren als den gebürtigen Neuruppiner Karl Friedrich Schinkel, sein einstiges Mündel.

Mit seinem Alterswerk erreichte er Weltruhm

Zwecks Entwirrung dieser Netzwerke verfolgt Dieterle sie bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Auch deshalb, um die überaus gelungene, aber über hundert Jahre dauernde, daher jeder ach so beliebten Instrumentalisierung für neudeutsche Multikulti-Agitation hohnsprechende Assimilierung der eingewanderten Hugenotten zu skizzieren, die schließlich Bismarck als „die besten deutschen Patrioten“ rühmte. So sondiert die Verfasserin den Mutterboden, auf dem Fontane gedieh, begutachtet das Erbe, das der Zeitdiagnostiker mitbekam, der sich wie kein anderer Autor seiner Generation kritisch mit dem Übergang Preußens in die Moderne auseinandersetzte. Leider endet dieses so facettenreiche Porträt des werdenden Künstlers als junger Mann 1840, vor den „ersten Poetenjahren“.

Was folgt, ist antiquarische, nicht kritische Geschichtsschreibung. Dieterle kompiliert fortan ihren Text aus einem Dutzend älterer Fontane-Biographien, aus der Reuters selbstverständlich sowie aus der Helmuth Nürnbergers („Der frühe Fontane 1840–1860“, 1967). Das Werk verschwindet dabei fast hinter dem positivistischen Wust der Lebenschronik. Dem alten Fontane, der mit „Effi Briest“ und „Der Stechlin“ weltliterarischen Rang erreichte, teilt sie kaum ein lächerliches Zehntel ihres Opus zu. Ostentativer kann man schwerlich ignorieren, was, beginnend bei Charlotte Jolles in den 1930ern, über Walter Müller-Seidel („Soziale Romankunst in Deutschland“, 1975) bis zu Rolf Zuberbühler („Der Stechlin. Fontanes politischer Altersroman im Lichte der Vossischen Zeitung und weiterer zeitgenössischer Publizistik“, 2012), über „Fontane und die Politik“ zutage gefördert worden ist und was heute so aktuell ist, als lebe der alte Skeptiker, der den Mächtigen einen Horizont attestierte, der über ihren  Geld- und Kartoffelsack nie hinausreicht,  noch mitten unter uns.

Was Goethe in seiner Einleitung zu „Dichtung und Wahrheit“ als die Hauptaufgabe der Biographie definierte, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller wieder nach außen abgespiegelt“ hat, diese Hauptaufgabe ist von Regina Dieterle für die Jahre zwischen 1840 und 1898 nicht bewältigt worden. Daher ist es lohnender, zu Wolfgang Hädeckes Fontane-Biographie zu greifen, die vor exakt zwanzig Jahren im gleichen Verlag erschienen ist.

Als weitere schmerzliche Lücke der Dieterle-Arbeit ist das Fehlen literaturhistorischer Kontexte zu beklagen. Vergleiche mit deutschen und europäischen Schriftstellerkollegen bleiben fragmentarisch. So auch der mit dem in Husum geborenen Theodor Storm (1817–1888), den Fontane als bedeutendsten Liebeslyriker nach Goethe bewunderte. Bezüglich Storms kann sich der Literaturfreund aber nun selbst ins Bild setzen, da endlich eine preisgünstige Ausgabe der historisch-kritischen, umfassend kommentierten Ausgabe der fast vierzigjährigen, von langen Schweigephasen unterbrochenen Fontane-Storm-Korrespondenz erschienen ist. Sie dokumentiert zwar eine wenig harmonische Beziehungsgeschichte, entschädigt aber mit dem märchenhaften Zauber der Briefkultur des 19. Jahrhunderts.

Gabriele Radecke (Hrsg.): Theodor Storm – Theodor Fontane. Der Briefwechsel. Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2018, broschiert, 528 Seiten, 29,95 Euro

Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biographie. Carl Hanser, München 2018, gebunden, 832 Seiten, Abbildungen, 34 Euro