© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Traumschöne Lügenpresse
„Fake News“ beim Sturmgeschütz: Der Fall Relotius erschüttert den deutschen Journalismus
Ronald Berthold

Für den Spiegel ist die Sache einfach: Er sei Opfer der Lügen seines Star-Reporters Claas Relotius, der mindestens 14 seiner fast 60 Spiegel-Artikel manipuliert hat. Aber ist das Blatt nicht vielmehr Mittäter? Wie unschuldig kann die Chefetage eines Magazins sein, die ernsthaft glaubt, Angela Merkel erscheine in der Türkei ausgebeuteten syrischen Flüchtlingskindern nachts im Traum? Wie können verantwortliche Redakteure diesen Unfug in die Unterzeile heben und sich anschließend beklagen, „getäuscht“ worden zu sein?

Um solche Schenkelklopfer zu durchschauen, braucht es kein 60köpfiges Dokumentationsteam, das Fakten checkt und auf das der Spiegel immer so stolz verweist. Dafür braucht es allein den Blick aus der Filterblase und die Frage nach Plausibilität. Publizistisch ausführlich und Auflage heischend arbeitet das Magazin nun die über Jahre verbreiteten Lügen auf, und auch andere Blätter wie die Zeit, die Welt, Cicero und die taz sind betroffen und prüfen veröffentlichte Relotius-Texte. Aber: Müßten nicht – wie es der Spiegel in einem anderen Fall sicher fordern würde – Köpfe rollen?

Erste Hinweise gab es bereits vor Jahren

NZZ Folio beendete bereits 2014 die Zusammenarbeit mit Relotius, nachdem eine Leserin Unstimmigkeiten kritisierte. Seit Februar 2017 gab es auch Hinweise beim Spiegel auf schwere Mängel der Relotius-Artikel. Damals versuchte ein „Spiegel-TV“-Team, die Geschichte über zwei irakische IS-Kindersoldaten zu drehen, die der „Superstar der deutschen Reportage“ (Spiegel) im Heft veröffentlicht hatte. Ergebnis: Die Story stimmte nicht. 

Trotz allem konnte der Fälscher weitermachen, erhielt sogar einen besseren Vertrag. Das müßte dessen Vorgesetzte unter Druck bringen. Die neue Chefredaktion aus Steffen Klusmann, Barbara Hans und Ullrich Fichtner sollte mit Jahresbeginn offiziell ihre Posten besetzen. Und da hakt es: Der langjährige Spiegel-Reporter Fichtner gilt als großer Förderer Relotius’. Und der unmittelbare Vorgesetzte des 33jährigen, Gesellschafts-Ressortleiter Matthias Geyer, wurde erst Anfang Dezember zum „Blattmacher“ befördert.

In einem internen Schreiben an alle Mitarbeiter hat Klusmann sich zwar vor Fichtner und Geyer gestellt: „Wir könnten jetzt jeden, der enger mit Relotius zu tun hatte, zur Verantwortung ziehen.“ Diese solle aber nur übernehmen, wer sich „etwas vorzuwerfen hat“. Und das tun die beiden nicht. Aber das sehen nicht alle so. Klusmann spricht davon, daß einige Kollegen fragten, ob Geyer und Fichtner „nach einem solchen Desaster eigentlich noch tragbar sind“. Antwort: Die beiden lassen ihre neuen Verträge ruhen, bis eine Kommission den Fall „abschließend untersucht hat“.

Mit Hilfe dieses Gremiums will der Spiegel Ermittlungen „ohne Rücksichten“ führen. Was heißt das? Ohne Rücksicht auf diejenigen, die die Fake News deckten? Oder gar ohne Rücksicht auf die politischen Narrative, die Relotius so perfekt erfüllte, daß er mit Journalistenpreisen überhäuft wurde? In vier Jahren räumte er zwölf Auszeichnungen ab. TV-Moderator Jörg Thadeusz sagt dazu, Jurys zeichneten vor allem Reportagen wie die von Relotius aus, weil sie in ihr Weltbild paßten, während andere Ausschnitte aus der Realität ausgeblendet würden.

Aus diesem Grund sei Relotius typisch für die Branche, ergänzt Focus-Redakteur Alexander Wendt auf publicomag.com: „In dem Moment, in dem Klaus Brinkbäumer, Heribert Prantl und Jakob Augstein die Reportagen von Relotius lasen, glaubten sie ihre eigenen Kommentare.“ Relotius habe mit seinen Lügen „den Inhalt von Leitartikeln und Bundespressekonferenzerklärungen“ abgebildet. Die Last liege nicht nur auf den Schultern des Reporters, sondern verteile sich über den Spiegel hinaus.

„Die Lügengeschichten von Relotius sind auch durchgegangen“, so Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer, „weil Gut und Böse immer schön ins Bild gepaßt haben“. Fange man an, „die Wirklichkeit zu leugnen oder zu verdrehen, vertritt man keine gute Sache mehr“. Im Dienst der „guten Sache“, der Flüchtlingspolitik und dem Kampf gegen Rechts, fanden indes die Fälschungen statt – zum Beispiel ein Mitglied der Weißen Rose mit Nazi-Vorwürfen gegen Chemnitzer Demonstranten zu zitieren. Andere Medien haben den „Fake“ gierig verbreitet; immer auf der Suche nach scharfer Diskreditierung von Dissidenten, hier der Kritiker der Flüchtlingskriminalität.

Manipulationen sind keine Spiegel-Spezialität: Die FAZ beschnitt ein Foto aus Chemnitz so, daß aus dem Transparent „Kein Zutritt für Terror!“ schlicht das Wort „Terror!“ wurde und der Eindruck entstand, die Demonstranten würden zum blutigen Kampf aufrufen. All das passiert in einem Klima, in dem die Regierung „Hetzjagden gegen Ausländer“ erfindet und einen Geheimdienstchef entläßt, weil er das widerlegt. Insofern überrascht die Aufregung über Relotius.

Der Reporter widmete sich auch einer dieser Storys über geldfindende Flüchtlinge, mit der über Monate Medien ihre Leser bei Laune hielten: Laut Relotius hat die Fachkraft – gelernter Elektroinstallateur – alles verloren: Heimat, Freunde, Arbeit, Haus. Aber er sage über die Rückgabe der 1.000 Euro, „er habe sich nie reicher gefühlt als in diesem Moment“. Diese Schlußpointen sind es, an denen Profis erkennen, daß sie dem Hirn des Reporters entspringen. Jeder Journalist wünscht sich Philosophie in den Aussagen der Interviewten. Allein: Sie kommt nie. Das wissen auch die Chefs beim Spiegel – selbst wenn das Blatt weiter behauptet, die Geschichte sei wahr. Die Häufung, mit der Relotius ungewöhnlich passende Antworten erhielt, hätte Alarm auslösen müssen.

War es die Gewohnheit, daß dies nicht geschah? Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hält dem Spiegel vor, Relotius sei nicht der einzige Redakteur, der die Wirklichkeit biege: Das Blatt inszeniere „gelegentlich auch jenseits des Genres Reportage politische Geschichten“. Und zwar offenbar so routiniert, daß selbst Relotius’ Co-Autor Juan Moreno nach eigenen Worten beim Versuch, die Fälschungen aufzudecken, zunächst gegen „dicke, solide Betonwände, Spiegel-Qualität gewissermaßen“, lief. Im Tagesspiegel schreibt Harald Martenstein sogar, Moreno sei „gedroht“ worden. 

Moreno sagt: „Wer heute einen Claas-Relotius-Text liest, wird sich fragen, wie dämlich der Spiegel und all die Preisjurys gewesen sein müssen, um den Unfug zu glauben. (...) Es liest sich ausgedacht. Jetzt.“ Jetzt? Wohl erst jetzt lesen Juroren und Journalisten die Artikel mit den Augen normaler Leser. Relotius’ Texte erfüllten laut Moreno „auf elegante Art Erwartungen und Vorstellungen, und sie haben vor allem immer einfache Erklärungen. Wenn man als Reporter aber eines lernt: Es ist immer grau, nie schwarz oder weiß.“

Eine Weisheit, die den Spiegel-Verantwortlichen bekannt ist; dennoch berichten deren Reporter und die anderer Leitmedien aus einer Schwarz-Weiß-Welt böser AfDler, guter Flüchtlinge, über einen Schurken im Weißen Haus und einen Engel im Kanzleramt. Daher ist Relotius kein Einzelfall, sondern Symptom eines journalistischen Systems, das solange einen einzigen Blickwinkel gepflegt hat, bis „Lügenpresse“ zum geflügelten Wort wurde.

Wie wahrscheinlich ist es in einer Welt voller Grautöne, daß der US-Präsident nur Fehler macht und seine Anhänger ausschließlich „tumbe Rassisten“ sind? Relotius war dabei ein Rad im Getriebe, machte unter anderen die Bewohner der US-Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota, wo 80 Prozent Trump gewählt hatten, mit Lügen wie einem in Wahrheit nie existierten „Mexikaner, bleibt weg“- Schild am Ortseingang zu Rassisten. Die Welt stellt die Frage: „Wenn Relotius über Arizona und Minnesota Texte geschrieben hätte, die die Trump-Amerikaner nicht als dumm/böse/armselig darstellen: Wären die dann gedruckt worden?“

In der letzten Geschichte ballert der Chef einer US-Bürgerwehr einfach so in die Dunkelheit, weil er dabei Migranten treffen könnte. Anscheinend Live dabei: Claas Relotius. Auch das hat er sich aus den Fingern gesogen, um das Medien-Narrativ unterfüttern zu können.

Der Lüge überführt und vom US-Botschafter – der eine unabhängige Untersuchung fordert – des „ins Uferlose“ gesteigerten Anti-Amerikanismus bezichtigt, entschuldigte sich Spiegel-Vize Dirk Kurbjuweit, „bei allen amerikanischen Bürgern, die durch diese Reportagen beleidigt und verunglimpft wurden“. Doch gleichzeitig beharrte er auf der „Kritik an der Politik des Mannes im Weißen Haus“.

Es ist diese Ambivalenz in der Aufarbeitung – nach außen zerknirscht tun und inhaltlich weitermachen wie bisher – die nichts am Leitmedien-Journalismus ändern wird. Wie sagt Ulrich Fichtner: „Wir werden nicht grundsätzlich infrage stellen, wie wir hier arbeiten.“