© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/19 / 04. Januar 2019

Brückenkopf im Kampf um die Weltrevolution
Ein Gewaltraum im Baltikum: Vor hundert Jahren entstand die lettische Sowjetrepublik
Thomas Löhlein

Am frühen Nachmittag des 3. Januar 1919 verließen reichsdeutsche Heereseinheiten zusammen mit dem Häuflein der deutschbaltischen Landeswehr das Zentrum Rigas, zogen sich über die Eisenbahnbrücke auf das linke Dünaufer zurück und gaben die Stadt kampflos weit überlegenen den  Kräften der aus dem Osten anrückenden Roten Armee preis. Über dieselbe Brücke stießen die Freiwilligen der Landeswehr dann am 22. Mai 1919 vor und befreiten handstreichartig die Hauptstadt der jungen Republik Lettland von der „Bolschewistenherrschaft“.

Achtzehn Wochen dauerte dieses einzigartige soziale Experiment einer lettischen Sowjetrepublik, das in Riga und in ihrem gesamten, sich fast bis Memel erstreckenden Herrschaftsbereich mindestens 8.600 zumeist deutsche und jüdische Bürger das Leben kostete. Ein Drittel von ihnen endete, abgeurteilt von sofort begründeten Revolutionstribunalen, durch Massenerschießungen. Die übrigen fielen Hunger und Krankheiten zum Opfer, darunter viele, die durch Zwangsarbeit entkräftet waren. Das am 7. Januar 1919 verkündete „Regierungsprogramm“ der Abgesandten Lenins, durch die Bank lettische Kommunisten, wurde also in relativ kurzer Zeit tatsächlich maximal blutig umgesetzt: „Kampf auf Leben und Tod mit der Bourgeoisie!“ 

Riga diente als „Schreckbild bolschewistischen Terrors“ 

Bundesdeutsche Zeithistoriker nahmen bisher von Sowjetlettland wenig Notiz und behandelten stattdessen die Nachkriegskämpfe der Freikorps und der Baltischen Landeswehr losgelöst vom bolschewistischen Schreckensregime. Zumeist mit der geschichtspolitisch durchsichtigen Absicht, Vorläufer des von Wehrmacht und SS seit 1941 gegen die Sowjetunion geführten „Vernichtungskrieges“ zu präsentieren und „Kontinuitäten“ einer dem deutschen Militär angeblich eigentümlichen „Gewaltkultur“ nachzuweisen. Gemeinhin verschafft die Karriere von Rudolf Höß, dem nachmaligen Kommandanten von Auschwitz, 1919 als Freikorpssoldat im Baltikum eingesetzt, solchen recht zwanghaften Konstruktionen einen Schein von Plausibilität. Es dauerte sehr lange, bis dagegen aus der etablierten Forschung energischer Protest erhoben worden ist, in Form einer 2017 veröffentlichten Studie des Potsdamer Zeithistorikers Peter Lieb. Sie weist nach, daß im Baltikum schon deswegen kein Probelauf für den „entgrenzten Vernichtungskrieg“ stattfand, weil es deutscherseits an einer genozidalen Praxis genauso fehlte wie an einer rassistisch-judenfeindlichen Ideologie (JF 48/17).

Die in Riga und in kurländischen Kleinstädten wie Tukkum, Mitau und Windau realexistente bolschewistische „Gewaltkultur“ blendeten jedoch nicht nur bundesdeutsche Historiker aus, um deren zeitgenössische Wahrnehmung um so bequemer als „Stereotype“, von „fanatischen Antikommunisten aufgebauschte Greuel“, denunzieren zu können. Denn auch im weiteren Rahmen der Totalitarismus-Forschung gewinnen die Geschehnisse, die sich in der nordöstlichen Randzone Europas abspielten, bislang nur ein schwaches Profil. 

Ernst Nolte, für dessen These vom „kausalen Nexus“ zwischen Archipel Gulag und Holocaust das von Augenzeugen wie Alfred Rosenberg und Erwin von Scheubner-Richter Adolf Hitler vermittelte „Schreckbild“ des bolschewistischen Terrors doch von so zentraler Bedeutung ist, schenkt gerade diesem „Gewaltraum“ (Jörg Baberowski) weniger Beachtung als den beiden anderen kommunistischen Laboratorien in Mitteleuropa, den gleichzeitig mit Riga in München und Budapest errichteten Räterepubliken. Ebenso wenig angemessen erfaßt Noltes Schüler Kai-Uwe Merz, der ausdrücklich danach fragt, welche Vorstellungen sich die Deutschen vom bolschewistischen Rußland machten („Das Schreckbild“, 1995), den hohen Stellenwert, der gerade den Ereignissen im Baltikum für die überwiegend negativen, furchterregenden  „Vorstellungen“ von Lenins Herrschaft zukam.

Dabei wußten die deutschen Bürger erstaunlich gut Bescheid über das Schicksal, das ihre 60.000 allein in Riga lebenden Landsleute erlitten, die am 3. Januar nicht vor der Gefahr geflohen, sondern im Vertrauen darauf, daß es so schlimm schon nicht werde, zurückgeblieben waren. Zum einen aus zahlreichen Berichten der Königsberger und Berliner Presse, aus einer Vielzahl von Broschüren und Flugschriften. Zum anderen, weit eindrücklicher, aus der Bildpropaganda, die sie mit Fotografien über die Opfer des bolschewistischen Terrors konfrontierte. Bilder von vergleichbar drastischer Anschaulichkeit sind nicht vom ohnehin nur kurzen Münchner Räte-Intermezzo, von den roten Massakern in Ungarn und schon gar nicht aus dem inneren Kreis der Hölle, aus den Schlachthäusern Rußlands überliefert.  

Die Horrorbilder aus dem nahen Baltikum machten zuerst in Königsberg die Runde, wo Eduard Stadtlers Berliner  „Liga zur Bekämpfung des Bolschewismus“ im Januar 1919 eine Außenstelle einrichtete, deren Mitarbeiter sich auf Agitation und Propaganda zwar so gut verstanden wie ihre Herausforderer, die aber noch Wochen benötigten, um die auch unter den Augen ihrer erklärten Todfeinde noch gepflegte Ignoranz und Lethargie des politisch urteilsschwachen Bürgertums aufzuweichen. Unter ihnen war ein Pressemann aus August Winnigs Entourage, Erich Köhrer, dessen Berichte und Fotos stärkste Massenwirkung erzielten. Fotos von bolschewistischen Untaten, von Köhrer aufgenommen, kursierten in Ostpreußens Öffentlichkeit schon Anfang Dezember 1918, als die Königsberger Woche „Leichenfotos“ reproduzierte, die etwa 70 ermordete deutsche Kriegsgefangene in der Nähe Pleskaus zeigten. 

Schauerlicher Feldversuch der roten Sozialingenieure

Nach der Etablierung der lettischen Sowjetrepublik stieg die Bilder- und Nachrichtenflut sprunghaft an. Ab Mitte März verfügten Stadtlers Leute mit der Klarheit auch über eine eigene Wochenschrift, deren erste Nummer einen Augenzeugenbericht über ein in der kurländischen Hafenstadt Windau an einhundert deutschen Kriegsgefangenen begangenes Massaker enthielt. Nach der Befreiung Mitaus, Mitte März 1919, informierte die Redaktion mit einer illustrierten Broschüre aus dem „Leichenschauhaus Mitau“ über die Exhumierung von Opfern der abgezogenen sowjetischen Mörder. 

Dank des via Königsberg ins übrige Reich gelieferten Materials blickte der deutsche Bürger und Arbeiter den Sowjets ins Schaufenster ihrer Rigaer Werkstatt. Vor den Augen der westlichen Welt entfaltete sich dort das ganze Szenario leninistischer Despotie. Mit den die „Bourgeoisie zur Ader“ lassenden Massenverhaftungen, Aushungerungen, Ausplünderungen und der Exmittierung von 10.000 „Kopfarbeitern“ aus ihren Wohnungen, mit Beschlagnahmen von Gotteshäusern und Zwangsrekrutierungen jüngerer Jahrgänge für die Rote Armee. 

Ein schauerlicher Feldversuch großkrimineller Sozialingenieure, die sich wie im „Vaterland der Werktätigen“ der Erschaffung des  „Neuen Menschen“ widmeten, der den zur Vernichtung preisgegebenen „bürgerlicher Menschen“ ersetzen sollte. Die über Sowjetlettland informierende Presse schilderte die Zustände deshalb nicht lediglich als Terror-Exzeß auf dem provinziellen Glacis des Tscheka-Imperiums, sondern als „Brückenkopf im Kampf um die Weltrevolution“ (Michael Garleff, 1994), wo sich „Europas Zukunft“ entschied (Gerhard Schultze-Pfaelzer, 1920). Darum, so die einhellige Auffassung, standen hier reichsdeutsche und deutschbaltische Freiwillige dem „Chaos“, der Negation jeder menschlichen Ordnung gegenüber.  

Hundert Jahre später, angesichts der Herausforderungen durch Islam und Masseneinwanderung, taugt der in Eu-ropa nach 1945 fast völlig verdrängte bolschewistische Versuch, in der modernen Großstadt Riga die westliche Zivilisation und die abendländische Kultur auszulöschen, wieder zum politischen Lehrstück. Dieses erzählt viel über das – damals gottlob nur temporäre – Versagen des deutschen Bürgertums vor Bedrohungen welthistorischen Zuschnitts.

Foto: Exhumierte Mordopfer der Bolschewisten bei Wesenberg in Livland; Titel der Köhrer-Publikation von 1919 (o.): Vor der westlichen Welt entfaltete sich das ganze Szenario der leninistischen Despotie