© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Julian Nida-Rümelin wagt beim Thema Migration den realistischen Blick
Akademische Denkspiele
Günter Scholdt

Julian Nida-Rümelin liebt publizistische Brückenschläge zwischen Ethik und praktischer Politik. Der Münchner Professor für Philosophie und politische Theorie, Mitglied etlicher Akademien, war unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Kulturstaatsminister und versuchte als „SPD-Philosoph“ einst mit Parteigranden wie Wolfgang Thierse eine „aristotelische Sozialdemokratie“ herbeizuschreiben. Seitdem äußerte er sich etwa über die „neue deutsche Bildungskatastrophe“, den „Akademisierungswahn“, „digitalen Humanismus“ und vieles mehr. Dabei löckt er häufig ein wenig wider den Zeitgeist-Stachel, doch nie so sehr, daß er für Evangelische Kirchentage nicht weiterhin kompatibel bliebe.

Auch an das spätestens seit der Debatte um den Migrationspakt wieder heiße Thema „Grenzen“ wagte er sich heran. In seinem Essay „Über Grenzen denken“ widerspricht er jenen Gutmenschen oder Sozialingenieuren, die das Experiment globaler Völkerwanderung begrüßen und transnationale Bewegungsfreiheit als Menschenrecht einfordern. Zur empirisch fundierten Konfrontation mit Politromantik à la „Kein Mensch ist illegal“ gelangt Nida-Rümelin allerdings erst, nachdem er einen dichten Kokon methodologischer und gerechtigkeitstheoretischer Diskursfolklore gesponnen hat. Dann immerhin belegt er, wie wenig das Thema für simple Moralisierung taugt, was ihm in Zeiten, in denen ein Abweichen vom „No Border“-Credo fast schon als rechtspopulistischer Dolchstoß an der Demokratie gilt, erregte Aufmerksamkeit sichert. 

Zum Renegaten allerdings reicht es nicht. Zwar rekapituliert er all die mit unideologischem Blick leicht erkennbaren Sachverhalte, warum es illusionär ist, das Weltelend durch offene Grenzen zu bekämpfen: von den demographischen Quantitäten, über den ausbleibenden wirtschaftlichen, kulturellen und humanitären Mehrwert von Migration, bis hin zur unterschiedlichen Interessenlage zwischen globaler „Elite“ und dem Bevölkerungsrest, der alles ausbaden muß. Gut, daß sein Essay bereits aus dem Jahr 2017 stammt, denn nur ein Jahr später galt eine solche Analyse bereits als „eng an Hitler angeschmiegt“, wie der „Antisemitismusforscher“ Wolfgang Benz im Herbst Alexander Gauland, ob dessen FAZ-Gastbeitrag mit gleicher Eliten-Kritik, bescheinigte.

Den Schritt zur politischen Konsequenz scheut Nida-Rümelin jedoch. Geht doch auch für ihn die Gefahr für die Demokratie ausgerechnet von jenen aus, die seine Worte ernst nehmen, den „Rechtspopulisten“. Nicht nur deshalb beschleicht einen bei seinen Erörterungen zuweilen das Gefühl, an akademischen Glasperlenspielen teilzuhaben – während etwa in Marrakesch eine supranationale Institution wie die Uno, auf die er in Sachen Vernunft und Migration seine Hoffnung setzt, ja jüngst gegenteilige Fakten geschaffen hat.