© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Wien nimmt Kiew in die Pflicht
Konflikt in der Ostukraine: Während in der Ukraine der Wahlkampf tobt, macht Moskau weiter Nägel mit Köpfen / Der Frieden bleibt auf der Strecke
Paul Leonhard

Die Ukraine hat mit dem Jahreswechsel auf Wahlkampfmodus geschaltet. Nachdem das von Präsident Petro Poroschenko für 30 Tage verhängte Kriegsrecht am 26. Dezember ausgelaufen war, hat der Vorlauf zur Präsidentenwahl am 31. März begonnen. Zudem sind für Herbst Parlamentswahlen angesetzt.

Poroschenko, unter dem sich die Ukraine stabilisiert hat, der aber auch den Konflikt mit dem mächtigen Nachbarn Rußland angeheizt hat, möchte weiterregieren, liegt aber sei Monaten in Meinungsumfragen hinter der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und dem Fernsehkomiker Wladimir Selenski, der am Silvesterabend seine Kandidatur offiziell bestätigte. Für die Ukrainer gebe es drei Wege, sagte Selenski bei einem kurzen Auftritt im Fernsehsender 1+1: Weiterzuleben wie bisher, auszuwandern oder im Land etwas zu verändern. Er wolle etwas verändern. Allgemein wird befürchtet, daß sich der russisch-ukrainische Konflikt durch den Präsidentschaftswahlkampf weiter verschärfen könnte. Die seit 2014 von Rußland besetzte Krim, die illegalen Wahlen in den Rebellenrepubliken Donezk und Lugansk und die Lage im Donbass seien gefährliche Brandherde, aus denen ein Flächenbrand entstehen könnte, warnt OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger: „Wir müssen die militärischen Risiken unbedingt wieder managen und zurückfahren“, damit der Konflikt zwischen der Ukraine und Rußland nicht eskaliere. Beide Länder müßten endlich raus aus der Logik „Wie du mir, so ich dir“, zitiert die Nachrichtenagentur dpa Greminger. Derzeit gebe es einfach keinen politischen Willen für Frieden und auch die politischen Impulse der Normandie-Gruppe Deutschland, Frankreich, Ukraine und Rußland würden fehlen.

Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatten Ende Dezember in einer Erklärung betont, daß aus ihrer Sicht die Menschenrechtslage auf der Krim und die Anwendung militärischer Gewalt durch Rußland in der Straße von Kertsch „sehr beunruhigend“ seien.

Seit 2014 wurden mehr als 10.000 Menschen getötet

Eine Einschätzung, die vom russischen Außenministerium prompt als „inakzeptabel“ bezeichnet wurde. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nahm anläßlich der Übergabe des EU-Ratsvorsitzes an Rumänien auch Kiew in die Pflicht. Die ukrainische Regierung müsse ein „ernsthaftes Interesse an Fortschritt“ und an einem „echten Waffenstillstand in der Ostukraine“ haben“, sagte Kurz der Rheinischen Post. Um Bewegung in den festgefahrenen Friedensprozeß zu bringen, schlägt Kurz einen schrittweisen, an politische Fortschritte in der Ostukraine geknüpften, Abbau der Wirtschaftssanktionen vor, die EU und USA 2014 nach der Annexion der Krim durch Rußland und dem Ausbrechen der bewaffneten Konflikte in der Ostukraine beschlossen hatten. Diese waren Anfang November von USPräsident Donald Trump noch einmal verschärft worden.

Moskau zeigte sich davon wenig beeindruckt und griff am 25. November hart durch, als Schiffe der ukrainischen Kriegsmarine die Meerenge von Kertsch ohne Genehmigung passierten. Drei Boote wurden beschlagnahmt, 24 Marinesoldaten inhaftiert. Das russische Außenministerium verwies auf Meldungen aus Donezk und Lugansk, daß die ukrainische Armee Artillerie und großkalibrige Mehrfachraketenwerfer beziehungsweise zwei Züge mit Panzern an den Kontaktlinien konzentriert habe. Das vom Vizepräsidenten der Akademie für Geopolitische Probleme, Oberst Wladimir Anochin, für die Zeit zwischen den Jahren befürchtete Szenario ist nicht eingetreten. Dieser hatte gemutmaßt, daß Kiew einen Zwischenfall mit chemischen Waffen konstruieren könnte, um diesen den prorussischen Separatisten zuzuschieben und nach einer entsprechenden Reaktion der Weltgemeinschaft zum Gegenschlag auszuholen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind bei den 2014 ausgebrochenen Kämpfen zwischen der ukrainischen Armee und den von Rußland unterstützten Separatisten bisher mehr als 10.000 Menschen getötet worden, im vergangenen Jahr mehr als hundert. Rußland meldet derweil die Vollendung eines 60 Kilometer langen Grenzzauns, der die von ihm annektierte Halbinsel Krim von der Ukraine trennt.