© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Kommunismus an der Verkehrsfront
Verkehrspolitik: Luxemburg macht den ÖPNV kostenlos / Neue Argumente im Kampf gegen die städtische Luftverschmutzung?
Paul Leonhard

Viele im Westen glauben, im Realsozialismus seien öffentliche Leistungen kostenlos gewesenen. Doch selbst in Moskau fuhren nur Kriegsveteranen umsonst, das Proletariat mußte bezahlen. So kostete eine Metrofahrt seit der sechsten Währungsreform 1961 bis zur siebenten 1991 fünf Kopeken. Das deckte zwar zuletzt nicht einmal die Erhebungskosten, aber Freifahrten kamen für die Sowjetführer nicht in Betracht. Heute kostet die Einzelfahrt 55 Rubel (etwa 75 Cent).

Drohen noch vollere Busse, Bahnen und Bahnhöfe?

In Luxemburg, mit einem Bruttoinlandsprodukt von 93.000 Euro pro Kopf das reichste Land der Welt, herrscht ab 2020 echter Kommunismus an der Verkehrsfront: Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) wird dann kostenfrei sein. „Das steht uns einfach gut zu Gesicht und trägt enorm zum Image und zur Attraktivität Luxemburgs bei“, sagte der Linksliberale Xavier Bettel, wiedergewählter Chef einer Ampelkoalition, in seiner Regierungserklärung. Bislang trägt der Staat 90 Prozent der ÖPNV-Kosten. Ob das die 200.000 Pendler aus Deutschland, Frankreich und Belgien zum Umstieg vom Auto in Bus und Bahn bewegt, ist ungewiß, aber das Großherzogtum ist das erste Land der Welt, das diesen Schritt wagt.

In der estnischen Hauptstadt Tallinn sind seit sechs Jahren Bus und Straßenbahn für die 453.000 Einwohner kostenfrei. Grund dafür waren allerdings nicht Staus und Umweltschutz, sondern ein Referendum und viele Rentner und Geringverdiener, die sich keine Fahrkarte nicht mehr leisten konnten. In Deutschland stand ein kostenloser ÖPNV immerhin schon auf der Tagesordnung des Bundestages. Anlaß war, daß Abgeordnete nicht nur eine Jahresdiät von 114.500 Euro, Freiflüge innerhalb Deutschlands und die Fahrbereitschaft des Bundestages genießen können, sondern auch eine Jahreskarte der Berliner Verkehrsbetriebe (728 Euro) und eine BahnCard 100 (1. Klasse: 7.435 Euro) kostenlos erhalten. Gleichzeitig drohte eine EU-Klage samt millionenschweren Strafzahlungen, weil in mehr als 70 Großstädten die gemeldeten Stickoxid-Konzentrationen zu hoch waren.

Zur Beruhigung der EU-Kommission versprach die Bundesregierung, daß in fünf Modellstädten Luftreinhaltungsmaßnahmen getestet würden. Eine davon sollte die Einführung eines kostenlosen ÖPNVs sein. Doch die ausgewählten Kommunen – Reutlingen, Essen, Bonn, Mannheim und Herrenberg (Württemberg) – lehnten dies ab. Nur Boris Palmer, grüner Bürgermeister der schwäbischen Studentenmetropole Tübingen, hätte mitgezogen. Aber seine 90.000-Einwohner-Stadt samt schon durchgerechnetem Konzept für Gratis-Busse blieb außen vor.

Würde der ÖPNV kostenlos, kollabiere das System in vielen Ballungsräumen, warnte Jürgen Fenske, Präsident des Verkehrsunternehmensverbandes VDV, in der Welt. „Wir hätten damit noch vollere Busse, Bahnen und Bahnhöfe, also einen weniger attraktiven Nahverkehr und damit genau das Gegenteil dessen, was wir eigentlich wollen.“ Skeptiker befürchten ohnehin, daß kaum Autofahrer umsteigen, sondern eher Fußgänger oder Fahrradfahrer. Es müßten größere Busse eingesetzt werden und der Takt so verdichtet werden, daß Pulkbildung drohe. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lockte im Wahlkampf mit 365-Euro-Jahrestickets ab Mitte 2020 in München, Nürnberg, Augsburg, Regensburg und Würzburg.

Vorbild ist hier das rot-grün regierte Wien, wo jährlich 400 Millionen Euro in das ÖPNV-Netz investiert werden und das 365-Euro-Ticket offenbar ein Erfolg ist. Gegenfinanziert wird das teilweise durch eine von Firmen zu zahlende kommunale U-Bahn-Steuer. Wenn deutsche Städte dieses Modell kopieren wollen, müßten sie erst bauen, die Netze ertüchtigen und einen Rückstand von 20 Jahren aufholen, so VDV-Chef Fenske. Erst dann sei der ÖPNV fähig, das aktuelle Fahrgastaufkommen zu bewältigen und deutlich wachsende Passagierzahlen zu verkraften. Bonn und Reutlingen wollen demnächst Jahrestickets für 365 Euro anbieten. In Tübingen und im unterfränkischen Aschaffenburg ist jeden Samstag der ÖPNV kostenfrei. In Berlin sollen ab dem Schuljahr 2019/20 Schüler kostenlos befördert werden.

In Warschau, Krakau und Paris ist zumindest an Tagen mit hoher Luftbelastung der ÖPNV kostenlos. Als größtes Gratis-ÖPNV-Netz gilt der französische Gemeindeverband Niort (Atlantikregion Neu-Aquitanien) mit 120.000 Einwohner, wo die Busse seit September 2017 kostenlos sind. Seit Mitte 2018 ist der Nahverkehr auch in Dünkirchen umsonst. Die belgische 73.000-Einwohner-Stadt Hasselt mußte dagegen aufgrund von Haushaltsproblemen nach 16 Jahren das Modell kostenloser ÖPNV-Tickets beenden.

Auch zahlreiche britische Städte haben solche Angebote zurückgezogen. Ausnahmen sind Manchester, Bolton und Stockport. Selbst im kapitalistischen Autoland USA gibt es einige kostenlose ÖPNV-Angebote: In Baltimore (Maryland) sind es fünf Buslinien, in Miami sind es die Einschienenbahn und einige Stadtbusse. In Columbus (Ohio) ist der innerstädtische CBus und auf Hawaii ist der Hele-On Bus umsonst.

Der Berliner „Verkehrsrebell im schwarzen Anzug“ (Zeit) und Deutschlands „nervigster Radfahrer“ (Die Welt), Heinrich Strößenreuther, will sich nicht mit Teillösungen zufriedengeben. Um das Wiener Modell zu finanzieren, sollten die Diesel-„Steuervergünstigungen“ gestrichen werden – sprich: Dieselfahren soll so teuer wie die Nutzung von Benzinautos werden. Dadurch, so der Geschäftsführer der Mini-GmbH „Agentur für clevere Städte UG“, ständen jährlich dann sieben bis acht Milliarden Euro zur Verfügung. Der Geschäftsführer des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ), der Privatautokritiker Andreas Knie, hat hingegen derzeit ganz andere Sorgen: Die Deutsche Bahn AG dreht dem InnoZ spätestens im April den Geldhahn zu.

Kasseler Initiative „Nahverkehr für alle“:  www.facebook.com/NahverkehrfuerAlle/

„Free Bus“ im Großraum Manchester (England):  tfgm.com/

Kostenlose Buslinien in Baltimore (Maryland):  www.charmcitycirculator.com

Kostenloser ÖPNV in Miami (Florida):  miamionthecheap.com/