© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Ein großer Großer
Die Flamme des Widerstands: Eine neue Biographie über Frankreichs legendären General und Staatsmann Charles de Gaulle
Markus Brandstetter

Am 25. August 1944 durchschreitet eine Reihe dunkel gekleideter Männer den Arc de Triomphe in Paris und geht von dort auf den verkehrslosen Champs Élysées weiter bis zur Place de la Concorde. In der Mitte geht ein sehr großer Mann in der Uniform eines Brigadegenerals militärisch gerade dahin und winkt den Menschenmassen, die die Straßen säumen und sogar auf Bäume, Leitern und Laternen geklettert sind, um den zu sehen, den sie bislang nur als Radiostimme kannten, die aus dem fernen London zu ihnen drang und zum Widerstand gegen die deutschen Besatzer und das Vichy-Regime aufforderte: le General de Gaulle.

In einem an Höhen und Tiefen reichen Leben muß das der größte Moment gewesen sein. Einer der jüngsten Generäle Frankreichs, der 1940 den Untergang seiner Armee erlebt hatte, der als Mitglied in der letzten Regierung vor der deutschen Besetzung nichts mehr hatte bewirken können und daraufhin mit einem Koffer voller Kleider und sonst nichts in einer Militärmaschine nach London geflogen war, wo er eine Exilregierung ohne Legitimation aufgestellt hatte; der den Briten und den Amerikanern wegen seines schwierigen Charakters als Primadonna ohne Land, Macht und Armee galt und jahrelang an den Katzentisch unter den Alliierten relegiert war – dieser Mann war nun der Befreier Frankreichs und stand auf der Weltbühne plötzlich da, wo er sich selbst immer schon gesehen hatte: neben Churchill und Roosevelt. De Gaulle hatte fast im Alleingang Frankreich einen Platz unter den vier Alliierten verschafft, die französischen Kolonien gesichert und Land, Armee, Wirtschaft und Bevölkerung vor dem totalen Zusammenbruch bewahrt. Dafür sind die Franzosen – auch die linken – heute de Gaulle sehr dankbar und halten ihn für ihren größten Staatsmann überhaupt. 3.600 Straßen und Plätze sind nach ihm benannt, mehr als nach Pasteur, Napoleon oder Victor Hugo.

Er weiß früh, daß er Soldat werden will

Julian Jackson, ein Geschichtsprofessor an der London University, hat nun eine detailreiche und trotzdem einigermaßen lesbare Biographie geschrieben, die allerdings ein bißchen viel an de Gaulle herumkrittelt – Churchill sei stets klüger gewesen – und dessen wahrer Größe deshalb nicht gerecht wird. Begonnen hat de Gaulles Leben 1890 im nordfranzösischen Lille, wo er im Haus seiner wohlhabenden Großeltern mütterlicherseits geboren wurde. Sein Vater unterrichtete an einem Gymnasium der Jesuiten in Paris Geschichte, Philosophie und Literatur – Fächer, die de Gaulle sein Leben lang fasziniert haben.

Der spätere Präsident konnte bis an sein Lebensende Passagen aus „Le Cid“ von Corneille auswendig hersagen, in seinen Büchern zitiert er Sokrates, Cicero, Goethe, Shakespeare, Heine und einen Rattenschwanz geringerer Autoren, und die vier Bände seiner Memoiren sind stilistisch so gut, daß sie bis heute in französischen Buchhandlungen ausliegen.

De Gaulle stammt aus keiner Militärfamilie, sondern aus dem niederen Amtsadel, trotzdem weiß er früh, daß er Soldat werden will. In einem Gedicht aus dem Abiturjahr findet sich der Vers: „Quand je devrais mourir, j’aimerais que ce soit sur un champs de bataille.“ (Wenn ich denn sterben muß, dann soll es auf einem Schlachtfeld sein.)

Nach einem Vorbereitungsjahr in Baden-Baden, wo er sein Deutsch verbessert und Algebra und Geometrie büffelt, besteht de Gaulle 1909 die Aufnahmeprüfung an der Militärschule von Saint-Cyr, wo er durch seinen Verstand, seine arrogante Art und seine Kritik an der „erstarrten französischen Militärdoktrin“ auffällt, was ihn allerdings nicht daran hindert, 1912 als einer der Jahrgangsbesten zu graduieren. Nach zwei Jahren im Regiment des Obersten Pétain, der in de Gaulles Leben noch eine Rolle spielen wird, bricht der große Krieg aus, den de Gaulle lange schon erwartet hatte.

Er wird dreimal verwundet und gerät 1916 in deutsche Gefangenschaft. De Gaulle könnte nun in einem Lager bei Ingolstadt in aller Ruhe das Ende des Krieges abwarten, aber dazu ist er nicht geschaffen. Fünfmal bricht er aus, einmal marschiert er in vier Nächten 130 Kilometer in Richtung Schweiz, aber wegen seiner Größe (1,93 Meter) und seines Akzentes fällt er überall auf und wird jedesmal wieder geschnappt.

Nach außen hin kühl, beherrscht und überlegen, ist de Gaulle in seinem Inneren oft melancholisch und depressiv. Und äußerst ehrgeizig. Deshalb gibt er nach dem Krieg Kurse in Militärgeschichte in Saint-Cyr und studiert zwei Jahre lang an der École militaire in Paris, wo er seine Ausbilder mit seinem „übersteigerten Selbstbewußtsein“ gegen sich aufbringt. Obwohl inzwischen verheiratet und Vater dreier Kinder, findet de Gaulle in den Zwischenkriegsjahren die Zeit, vier Bücher zu schreiben, in denen er den modernen Bewegungskrieg mit Panzern propagiert. Das macht ihn in Politik- und Militärkreisen nicht beliebt, aber bekannt. Nach zwölf Jahren als Hauptmann mit Stationen im französisch besetzten Rheinland (Mainz,

Trier) und in Beirut übernimmt er einen Posten im Verteidigungsministerium, wo er lernt, mit Politikern umzugehen.

Von London aus sendet er Durchhalteparolen

Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird de Gaulle Kommandeur der 4. französischen Panzerdivision. Jetzt kann er seine Ideen vom modernen Bewegungskrieg umsetzen. Tatsächlich führt er mit seinen Renault-Panzern bei Montcornet einen kühnen Flankenstoß gegen das Panzerkorps Guderians, aber fehlende Luftunterstützung und die Überlegenheit der deutschen Stukas zwingen ihn zum Rückzug. Zum Brigadegeneral befördert, wird er nur Tage vor dem Fall Frankreichs zum Staatssekretär für Verteidigung mit Kabinettsrang ernannt, doch seine Amtszeit währt nur zwei Wochen, dann tritt die Regierung zurück. 

Und jetzt unternimmt de Gaulle den Schritt, der sein Leben für immer verändern wird: Er tritt nicht in die von den Deutschen geduldete Regierung des Marschalls Pétain ein, sondern fliegt nach London, wo er sich bei Churchill als Anführer der freien Franzosen präsentiert, um ein Frankreich zu vertreten, das sich den Deutschen nicht ergeben hat, wie er in seiner ersten Radioansprache sagt: „La flamme de la résistance française ne doit pas s’éteindre et ne s’éteindra pas.“ (Die Flamme des französischen Widerstandes darf und wird nicht verlöschen.)

Von der Vichy-Regierung zum Tode verurteilt und seines militärischen Ranges beraubt, sendet de Gaulle nun dreimal im Monat via BBC Durchhalteparolen an die Franzosen, nervt Churchill und Roosevelt mit seinen Allüren, aber nach und nach sammelt er einen Stab aus Getreuen um sich, die mit ihm nach dem Krieg ein neues Frankreich aufbauen wollen. Zwei Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie ist de Gaulle wieder in Frankreich, überzeugt Eisenhower davon, französische Truppen vor den Amerikanern in Paris einziehen zu lassen, worauf der General, wie er von nun an immer genannt wird, vom Balkon des Pariser Rathauses herab erklärt, daß Paris befreit sei und die Dritte Republik nie zu existieren aufgehört habe.

Im Sommer 1944 steht de Gaulle auf dem Gipfel seiner Popularität. Es ist selbstverständlich, daß er die erste provisorische Nachkriegsregierung der Franzosen leitet. Und er macht seine Sache gut: Er drängt den durch die Résistance enorm erstarkten Einfluß der Kommunisten zurück, behält die Nerven, als die Deutschen Straßburg zurückerobern und verteidigt auf der internationalen Bühne vehement Frankreichs Anspruch, eine der Siegermächte des Krieges zu sein.

Nach den Wahlen im November 1945 wird de Gaulle von der Nationalversammlung zum Präsidenten gewählt, aber die Regierung ist unstabil, weil de Gaulle den Kommunisten, die die meisten Sitze gewonnen haben, keine wichtigen Ministerämter gibt. Nach einem Jahr voller Hickhack legt de Gaulle im Januar 1946 abrupt alle seine Ämter nieder und zieht sich in sein Haus im 700-Seelen-Dorf Colombey les Deux Églises zurück, wo er seine Memoiren schreibt. Zwölf Jahre lang verbringt er als Privatmann fern von der Politik, dann meldet er sich im Mai 1958 mit unfehlbarem Timing zurück.

Frankreich steht politisch am Abgrund. Zwischen 1946 und 1958 wechselt 24mal das Kabinett und 15mal der Premierminister, Indochina ist als Kolonie verloren und in Algerien steht das Militär vor dem Putsch. Am 1. Juni 1958 tritt de Gaulle vor das Parlament und verlangt, sechs Monate per Dekret regieren zu dürfen, während derer er eine neue Verfassung vorlegen und danach Wahlen ausschreiben werde. Alles geht, wie de Gaulle es will, und im November wird er mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt, der nun sieben Jahre im Amt bleibt und eine Machtfülle hat, wie kein französisches Staatsoberhaupt je zuvor.

Die Unruhen 1968 leiten seinen Machtverlust ein

Und die braucht de Gaulle auch, denn Algerien, keine Kolonie, sondern Teil Frankreichs, befindet sich in einem blutigen Bürgerkrieg mit einer sozialistischen Befreiungsfront. De Gaulle fackelt nicht lange, sondern fährt nach Algier, ruft den Algerienfranzosen sein berühmtes „Je vous ai compris“ (Ich habe euch verstanden) zu und entläßt Algerien 1962 aus der Anbindung an Frankreich.

Obwohl inzwischen über siebzig, ist de Gaulle in Frankreich der zentrale Politiker während der „Trente Glorieuses“, der goldenen dreißig Jahre Frankreichs zwischen 1945 und 1977, als die französische Wirtschaft wächst wie nie zuvor und nie mehr danach. Er setzt eine Währungsreform durch, macht Frankreich zur Nuklearmacht und begründet mit Adenauer die Europäische Gemeinschaft.

Es war kein europäischer Krieg, sondern die bürgerkriegsähnlichen Studentenunruhen im Mai 1968, die das Ende von de Gaulles Macht einleiteten. Obwohl de Gaulle im Juni 1968 die Wahlen haushoch gewannen, weil man nur ihm zutraute, die Ordnung im Land wiederherzustellen, tritt er kein Jahr später zurück, weil er die Nase von der Politik endgültig voll hat. Er zieht sich wieder in sein Haus in den Wäldern des Départments Haute-Marne zurück, schreibt den letzten Band seiner Memoiren und stirbt am 9. November 1970, kurz vor seinem 80. Geburtstag.

Julian Jackson: A Certain Idea of France. The Life of Charles de Gaulle. Allen Lane (Penguin), London 2018, gebunden, 928 Seiten, 27,99 Euro