© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Verfall der Hemmungen
Der linke Kampf um die Deutungshoheit der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs
Stefan Scheil

Wenn jemand einen unangenehmen Fakt erklären soll, bringt er häufig Deutschland ins Spiel. So taten es schon vor hundert Jahren die Gegner im westlichen Ausland, die den selbst mit verursachten Krieg hierher abschoben. Das galt aber schon damals auch für die Kommunistin Rosa Luxemburg, als sie sich mit den Brutalitäten der russischen Oktoberrevolution konfrontiert sah: „Was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine sind: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus.“ Geschrieben wurde dies 1918. Mochten also Lenin und Genossen in Moskau eine Diktatur errichtet haben, schuld daran waren die SPD und das Kaiserreich. 

Nun gehörte das Kaiserreich im Januar 1919 bereits der Geschichte an, und die jetzt regierende SPD sah die Zusammenhänge grundlegend anders. Die Partei war von einem Patriotismus durchzogen, den man weiter links für untragbar erachtete. Sie hatte 1914 für Kriegskredite gestimmt, um einen russischen Angriff abzuwehren. Viele Sozialdemokraten gaben Rosa Luxemburg und ihrem nicht weniger auf Deutschland fixierten Mitstreiter Karl Liebknecht längst eine wesentliche Schuld an dem unglücklichen Zusammenbruch des militärischen Widerstands gegen die Alliierten. Besonders Liebknecht hatte viel getan, um sich diesen Ruf auch zu erwerben. 

Schon 1907 hatte ihn das Reichsgericht in einem Hochverratsprozeß zu anderthalb Jahren Festung verurteilt, weil er unter dem Titel „Militarismus und Antimilitarismus“ gegen die Streitkräfte agitiert hatte. Während des Krieges redete er sich ab 1914 als Abgeordneter im Reichstag mehr und mehr in Rage, gegen den Protest des ganzen Parlaments. 

Langsam zeigte dies trotzdem Wirkung im Land. Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg sah Liebknecht schon Anfang 1915 als den möglichen Führer der Revolution, und am 1. Mai 1916 war es dann soweit. Auf dem Potsdamer Platz forderte Liebknecht öffentlich zum Sturz der Regierung auf, was mitten im Krieg selbst dem liberalen kaiserlichen Rechtsstaat endgültig zuviel war. Man verurteilte Liebknecht zu vier Jahren Zuchthaus und sechs Jahren ohne bürgerliche Ehrenrechte. Doch hatte Liebknecht ein gutes Stück auf dem Weg zum Revolutionsführer zurückgelegt. Trotz des herrschenden Belagerungszustandes und Streikverbot legten mehr als 50.000 Berliner Arbeiter aus Protest gegen das Urteil die Arbeit nieder, ein Vorbote der großen Streiks im Winter 1917/18.

Der linke Mythos von der verratenen Revolution

Im Oktober 1918 gehörte Liebknecht dann mit zu jenen, die in der Konsequenz der Oktoberreformen begnadigt wurden, mit denen das Kaiserreich unter Mitwirkung aller Fraktionen parlamentarisiert wurde. Wie die ebenfalls aus der Haft entlassene Rosa Luxemburg zeigte er sich gegenüber der neuen Regierung allerdings wenig dankbar. Sie setzten ihre Angriffe auf die deutschen Verhältnisse unverdrossen fort und arbeiteten auf einen revolutionären Umsturz russischer Art hin, den Berliner Arbeiter unter aktiver Beteiligung Liebknechts Anfang 1919 (Januaraufstände oder Spartakistenaufstand) auch tatsächlich versuchten (JF 2/19).

Zu einem bis heute kultivierten Mythos des deutschen Linksextremismus wurde dann allerdings nicht dieser aussichtslose Aufstand, sondern das Schicksal Liebknechts und Luxemburgs bei dessen endgültiger Niederschlagung Mitte Januar. Regierungstreue Truppen und Freikorps hatten nach einigen Tagen die Lage in Berlin wieder unter Kontrolle. Was folgte, war am 15. Januar der immer noch von Gerüchten umwehte Mord an beiden, dessen Verantwortliche nie richtig festgestellt werden konnten. 

Zusammen mit Wilhelm Pieck, dem späteren ersten und einzigen Präsidenten der DDR, wurden Liebknecht und Luxemburg verhaftet. Man brachte die Gruppe ins Hauptquartier des Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Berliner Hotel Eden am Kurfürstendamm, wo sie von dessen Generalstabsoffizier Waldemar Pabst verhört wurden. Nach dem Verlassen des Gebäudes folgte ihre Erschießung während einer anschließenden Autofahrt. Liebknecht brachten die Täter als „unbekannte Leiche“ zur Sammelstelle, Luxemburg warf man in den Landwehrkanal, wo sie erst Monate später gefunden wurde.

Fünf Jahrzehnte später wurde ein Brief von Pabst entdeckt, laut dem er mit Rückendeckung des sozialdemokratischen Wehrministers Gustav Noske gehandelt haben sollte. Das sei auch richtig gewesen, wenn man sich die Zustände in der DDR ansehe. Doch sei die „Aktion“ nicht so erfolgt, wie er sie angeordnet hatte. Gern griff die extreme Linke diese Behauptung auf, stellte damit die ideologische Frontlinie zur SPD von 1919 wieder her und pflegte den Mythos von der verratenen Revolution. Daß Pabst zugleich Wilhelm Pieck als Verräter und Informanten beschuldigte, ließ man unter den Tisch fallen.

Im Grunde enthält der 15. Januar daher eine zweifache, recht verschiedene Symbolik. Er steht zum einen für die abstruse Deutschlandfixierung zweier kommunistischer Theoretiker. Sie glaubten, mit einer Berliner Revolution den Impuls für den Rest der Welt geben zu sollen, und sie legten zugleich die Basis für die atavistisch deutschfeindliche Mythenwelt der hiesigen Linken. Andererseits steht der 15. Januar für den kausalen Nexus (Ernst Nolte) zwischen der Revolutionsbrutalität und dem Verfall von Hemmungen auf der Rechten, mit entsprechenden Mitteln zu antworten. Die durch Luxemburg und Liebknecht angezettelten Aufstände waren gescheitert, es gab eigentlich kein Hindernis, sie auf normalem Weg gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. 

In ihrer Ermordung dämmerte also tatsächlich eine Verbindung zwischen Ereignissen in Deutschland und Rußland herauf, nur umgekehrt, als Rosa Luxemburg es zuvor behauptet hatte.