© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/19 / 11. Januar 2019

Putins Aufrüstung
Abwehrsystem für hyperschallschnelle Waffengleiter gibt es noch nicht / USA suchen Gegenstrategie
Paul Leonhard

Während die EU vor der Masseneinwanderung kapituliert, wohl den Nettozahler Großbritannien verliert und das europäische Satellitennetzwerk Galileo nur dank russischer Raketen zumindest teil-einsatzfähig ist, sind die Konkurrenzsysteme GPS (USA), Glonass (Rußland) und Beidou (China) längst ausgebaut. Die drei Supermächte versuchen sich inzwischen sogar mit Hyperschallwaffen zu übertrumpfen. Ende Dezember war es Wladimir Putin, der mit einem „exzellenten Neujahrsgeschenk an die Nation“ aufwartete: Die Nachrichtenagentur Ria Novosti zeigte ein Video vom Start des Hyperschallgleiters „Awangard“, der am 26. Dezember mittels der Interkoninenatalrakete UR-100UTTKh im Luftwaffenstützpunkt Dombarowski im südlichen Ural gestartet wurde und schließlich im 6.000 Kilometer entfernten Testgelände Kura auf der fernöstlichen Halbinsel Kamtschatka einschlug.

Der russische Präsident sprach davon, die Hyperschallwaffe könne mit Mach 20, also zwanzig mal schneller als der Schall (24.720 Kilometer pro Stunde) fliegen, sich auf und ab bewegen und so sämtliche Abwehrsysteme weiträumig umkurven. Vizepremier Juri Borissow sprach sogar von bis zu 27 Mach. Putin hatte „Awangard“ als eines von mehreren neuen Waffensystemen erstmals am 1. März 2018 vorgestellt und als „unbesiegbar“ bezeichnet, da es mit einer Reichweite vom 10.000 Kilometern fast jeden Punkt der Welt treffen könne.

Die neue Hyperschallwaffe werde ab diesem Jahr einsatzbereit sein, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Da das „Awangard“-System auf einer „unvorhersehbaren Flugbahn“ auch durch untere Schichten der Atmosphäre fliegen könne, sei sie in der Lage, jedes Raketenabwehrsystem der nächsten 30 bis 50 Jahre zu überwinden. Vor einer realen Bedrohung, gegen die es momentan keine effektive Gegenmaßnahme gebe, warnte der Vier-Sterne-General John Hyten, Befehlshaber des Strategischen Kommandos der USA, bei seiner Anhörung vor dem US-Senat.

Optimiert auf extrem hohe Geschwindigkeitsbereiche

„Dieses Hyperschallgleitvehikel separiert in Höhen über 100 Kilometer, taucht dann wieder in die Erdatmosphäre ein und gleitet mit unheimlich hoher Geschwindigkeit in der Atmosphäre über sehr hohe Distanzen“, erläuterte Dirk Zimper vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Deutschlandfunk. Diese Flugkörper seien „optimiert auf wahnsinnig hohe Geschwindigkeitsbereiche. Man nennt die auch Wellenreiterkonfiguration, und diese Konfigurationen sind in der Lage, bei Geschwindigkeiten von zehn Kilometern pro Sekunde in der Atmosphäre zu gleiten, über hohe Distanzen, und dann in einen Zielort zu fliegen“, so Zimper.

Die Nato-Länder haben bislang keinerlei technische Möglichkeiten, sich gegen russische und chinesische Hyperschallwaffen zu verteidigen. Waffensysteme wie „Awangard“ und das im Juli 2018 vorgestellte Luft-Boden-Hyperschallsystem „Kinschal“ (gestartet von den Militärjets Tu-22M3 und MiG-31) hätten das Kräfteverhältnis grundlegend verändert, heißt es in einem Bericht des US-Rechnungshofes (GAO), der Studien verschiedener Ministerien und Regierungsorganisationen ausgewertet hatte.

Selbst die modernsten britischen Abwehrsysteme könnten lediglich Raketen mit einer Geschwindigkeit bis maximal 3.700 Stundenkilometern abfangen. Damit seien sowohl die britische als auch die US-Flotte bereits gegenüber den im Januar 2018 vorgestellten Hyperschall-Seezielflugkörper „Zirkon“ schutzlos. Diese russischen Antischiffsraketen erreichen Mach 8 und haben eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern.

China und Rußland würden Hyperschallwaffen entwickeln, „weil deren Geschwindigkeit, Höhe und Beweglichkeit die meisten Raketenabwehrsysteme besiegen können“, heißt es in dem GAO-Bericht. Die Waffen „könnten benutzt werden, um die Langstreckenmöglichkeiten von einem konventionellen und nuklearen Schlag zu verbessern“, es gebe keine Gegenmaßnahmen, zitiert die Nachrichtenagentur AFP aus dem Papier. Offenbar seien die USA dabei, ihre bisherige militärische Dominanz in jeglicher Hinsicht – ob bei Hyperschallraketen, Internationalraketen, Kampfflugzeugen oder U-Booten – zu verlieren.

Erste Aufnahmen eines Modells eines chinesischen Hyperschallflugkörpers DF-ZF waren im Herbst 2017 bekannt geworden. Damals berichtete die britische Daily Mail unter Verweis auf den chinesischen Staatssender CCTV von einem Fluggerät, das eine Geschwindigkeit von bis zu Mach 10 (12.360 Kilometer pro Stunde) erreichen, nukleare Sprengköpfe tragen und den US-Raketenschutzschild problemlos überwinden könne. China habe 2018 mehr Hyperschallwaffen getestet als die USA in einem Jahrzehnt, klagte Michael Griffin, Chefingenieur des Pentagons bei einer Expertenanhörung. Griffin, von 2005 bis 2009 Nasa-Chef, von verwies darauf, daß der chinesische Testwaffengleiter „Starry Sky 2“ Anfang August 2018 bei Wellenfahrten in der oberen Atmosphäre über sechs Minuten lang 5,5fache Schallgeschwindigkeit erreicht habe. Der Ausbau des russischen Waffenarsenals erklärt vielleicht auch den von Donald Trump im Oktober 2018 angekündigten Ausstieg der USA aus dem INF-Abrüstungsvertrag. Und das Weiße Haus hatte schon bei Putins Waffenpräsentation im März 2018 moniert, daß Moskau über ein Jahrzehnt „destabilisierende Waffensysteme in direkter Verletzung seiner vertraglichen Verpflichtungen“ aus Rüstungsabkommen entwickelt habe.

EU-Staaten sind längst  ins Hintertreffen geraten

Prompt wurde der US-Rüstungskonzern Lockheed Martin mit der Entwicklung einer „konventionellen Hyperschallwaffe“ beauftragt, wofür mehr als 1,4 Milliarden Dollar bereitgestellt wurden. Anfang November 2018 legte die Pentagon-Forschungsbehörde Darpa mit einer dringenden Ausschreibung noch einmal nach: Gesucht werden Vorschläge, wie ein Abwehrsystem für hyperschallschnelle Waffengleiter in den oberen Luftschichten aussehen könnte.

Bleibe die Hyperschallwaffentechnik „dem exklusiven Dreier-Club von China, Rußland und USA vorbehalten“, konstatierte der Stern, „würden die Waffensysteme aller anderen Mächte nur hilflose Ziele für die drei sein: Kein Schiff, Flugzeug oder Panzer der EU-Staaten könne einem Gegner mit Hyperschallwaffen standhalten.“ Überdies wäre der „Awangard“-Gleiter auch ohne Gefechtskopf gefährlich, warnt DLR-Experte Zimper, „weil schlicht und ergreifend die kinetische Energie des Vehikels ausreichen würde, um einen immensen Schaden zu erzeugen“.

Nasa-Hyperschallprojekt X-43A:  nasa.gov/

Russisches Hyperschallprojekt Avangard:  www.aif.ru/

Chinesisches Hyperschallprojekt DF-ZF:  military.com/