© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Mit Bismarck nach Brüssel
Parteitag: In einem weiteren viertägigen Verhandlungsmarathon beschließt die AfD ein Europawahl-Programm und kürt ihre Kandidaten
Christian Vollradt

Ob das nicht ein Widerspruch sei, wird AfD-Chef Jörg Meuthen vergangenen Sonntag am Rande des Parteitags von Journalisten gefragt: So einen Aufwand zu betreiben für die Wahl der Kandidaten, die man am 26. Mai nach Brüssel und Straßburg senden will – um dann die Forderung nach Abschaffung eben dieses EU-Parlaments (EP) ins Wahlprogramm zu schreiben. Nein, versichert der derzeit einzige AfD-Vertreter im EP. Denn die Selbstabschaffung sei eine „edle Aufgabe“. Mit dieser Ansicht habe er schon als junger Ökonom seine Kollegen in der Finanzverwaltung verblüfft, fügt Meuthen lachend an. 

Der Spitzenkandidat zeigte sich zufrieden mit dem, was im November in Magdeburg begonnen (JF 48/18) und nun im sächsischen Riesa abgeschlossen  wurde. Ihm werde eine Truppe zur Seite gestellt, in der „richtig gute Leute“ vertreten seien, meinte er mit Blick auf die Kandidaten. Zudem war Meuthen die Erleichterung anzumerken, daß die Mehrheit der Delegierten seinem Wunsch entsprach, eine andere Maximalforderung aus dem Leitantrag zum Europa-Wahlprogramm wieder herauszunehmen: die nach Festlegung einer fünfjährigen Frist zum Austritt aus der EU, sollten sich die von der AfD geforderten Reformen nicht verwirklichen lassen. 

Zu verdanken war die Zustimmung für diese „weichere Linie“ vor allem einer flammenden Rede seines Co-Vorsitzenden Alexander Gauland. Es sei niemals klug, mit Maximalforderungen in eine Wahl zu gehen. „So sehr es einen jucken mag, den korrupten, aufgeblähten, undemokratischen und latent totalitären Apparat abzuschaffen, muß man in Rechnung stellen, daß die Folgen leicht unberechenbar wären“, mahnte er. „Wir müssen an dieser Stelle realistisch bleiben!“ Wenn Deutschland eine Organisation wie die EU verlassen würde, hätte das aus historischen Gründen eine andere Bedeutung, als wenn es die Briten täten. Unsere Nachbarn, so Gauland, begegneten jedem deutschen Sonderweg mit Mißtrauen. Den „Dexit“ verwies Gauland ins Reich der Utopie: „Uns ganz aus der EU zu verabschieden, wäre das exakte Gegenstück zu den Maximalforderungen einer Angela Merkel.“ 

Und dann zog der Grandseigneur der AfD zur Begründung einer „vernunftgeleiteten Europapolitik“ seine rhetorische Allzweckwaffe mit Treffergarantie: Bismarck, den Reichsgründer. Der habe zunächst auch nur den Deutschen Bund reformieren und auf eine Lösung mit Österreich gesetzt. Erst als er dort keinen Verhandlungspartner fand, blieb die kleindeutsche Lösung übrig. „Wir aber haben Partner in Europa, um unsere Ziele zu erreichen“, beendete der Parteichef seinen historischen Exkurs, zählte die italienische Lega, Orbans Fidesz, die polnische PiS und die FPÖ auf und stellte klar: „Politik bedeutet das Bohren dicker Bretter.“ Stehend spendete der Saal Beifall; wieder einmal hatte Gauland einen Riß in der Partei gekittet. 

Daß es die AfD sich nie leicht macht, verdeutlichte der Aufwand an Finanzen und Zeit. Zweimal innerhalb von gut zwei Monaten waren die über 500 Delegierten zusammengekommen, acht Tage mußte so jeder von ihnen in den Veranstaltungshallen verbringen. Teil eins der Europawahlversammlung im November in Magdeburg soll mit rund 500.000 Euro in der Parteikasse zu Buche geschlagen haben; das verlängerte Wochenende in Riesa dürfte nicht wesentlich preiswerter gewesen sein. 

Die „Glückritter“ kosten Zeit und Geld

Jeder Kandidat hatte für seine Vorstellung sieben Minuten Redezeit, plus drei Fragen mit Antworten; im Schnitt bewarben sich mehr als zehn Leute um einen Listenplatz. „Umgerechnet kostet uns jede Kandidatenvorstellung 3.500 Euro“, rechnete Meuthen vor. Jeder solle sich also selbstkritisch fragen, appellierte der Vorsitzende an die Parteifreunde im Saal, ob er das Wagnis Kandidatur angehen wolle. Er zielte dabei auf diejenigen „Glücksritter“, die erkennbar ohne jegliche Chance antreten – und dann ein einstelliges Ergebnis erzielten. Die Bitte fruchtete nur teilweise. Das müsse der Spaß einem schon wert sein, meinte einer der Chancenlosen zur Begründung gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Andere sagten, sie wollten „halt mal üben“. 

Entäuschung herrschte bei den Landesverbänden im Nordwesten, die auf keinem der sicheren Listenplätze vertreten sind (siehe Kasten). Schleswig-Holsteiner findet man erst an 22. und 24. Stelle, ein Hamburger dürfte mit Platz 29 selbst als Nachrücker nur geringe Chancen haben. Niedersachsen und Bremer fehlen ganz. Als einziger norddeutscher AfD-Abgeordneter dürfte Hagen Brauer aus Mecklenburg-Vorpommern nach Brüssel beziehungsweise Straßburg ziehen. Auch wenn in der AfD – anders als in der Union – der Regionalproporz keine Rolle spielt, stellt das die Partei vor ein Problem: „Mit welchem Gesicht sollen wir denn plakatieren?“ fragen sich einige in den Landesverbänden, die in Magdeburg und Riesa leer ausgingen. Auch schwinde bei den Mitgliedern dort möglicherweise die Motivation, sich ins Wahlkampfgetümmel zu begeben.

Der Austritt des früheren Landes- und Fraktionschefs von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, aus der AfD spielte in Riesa nur am Rande eine Rolle. Vereinzelt kam im Gespräch Bedauern über seinen Schritt zum Ausdruck. Schuld daran sei auch das Vorgehen des Bundesvorstands, lautete der Vorwurf. 

Mehrere hochrangige AfD-Funktionäre zeigten sich hingegen offen erfreut über den Austritt Poggenburgs. Das sei gut für die innerparteiliche Hygiene. Er solle ruhig noch ein paar „Störfälle“ mitnehmen. Deswegen „könnte uns eher noch nützen, daß er geht“, ergänzte ein anderer. Einen Erfolg von Poggenburgs neuer Formation, dem „Aufbruch deutscher Patrioten“ (AdP), hielt man beim AfD-Parteitag für höchst unwahrscheinlich.