© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Politische Ergebnisse erwünscht
Die Forschung der Archäogenetiker erfüllt leider nicht die Erwartungen der Multikulti-Apologeten
Thomas Schäfer

Im Jahre 1973 schrieb der englische Prähistoriker Colin Renfrew in seinem vielbeachteten Werk „Before Civilization“: „In unseren Lehrbüchern steht vieles zur Vorgeschichte, was nicht ganz paßt oder zum Teil sogar schlichtweg falsch ist.“ Deshalb sah er seine Wissenschaftsdisziplin in einer schweren Krise. Ursache derselben war das Aufkommen der Radiokarbondatierung, durch die so manche bis dahin als unumstößlich geltende Chronologie ins Wanken geriet. Heute erleben wir eine Neuauflage dieser Krise durch die vielfältigen Möglichkeiten der DNA-Analyse. Während die ersten Erbgutuntersuchungen an ägyptischen Mumien zur Mitte der 1980er Jahre noch sehr fehlerbehaftet waren, hat sich die Technologie seit etwa 2000 enorm verbessert, womit der Siegeszug der Archäogenetik begann.

Diese basiert auf der Beschäftigung mit sogenannter „Alter DNA“ (aDNA), also Resten von Erbgutmolekülen in toten Organismen. Da selbige oftmals nur in extrem geringer Menge vorliegen, nutzen die Archäogenetiker die Methode der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), welche eine Vervielfältigung der verfügbaren aDNA erlaubt. Dabei gelangen sie zu immer neuen aufsehenerregenden Befunden, die diverse gravierende Irrtümer der Prähistoriker und Geschichtswissenschaftler aufdecken.

So erwies sich unter anderem, daß der Tuberkulose-Erreger keineswegs von den Europäern nach Amerika eingeschleppt worden war, sondern schon lange vorher dort sein Unwesen getrieben hatte. Ebenso platzte die Legende von den ausschließlich nahöstlichen Wurzeln der mitteleuropäischen Landwirtschaft. Die bäuerlichen Einwanderer kamen nämlich gleichermaßen aus dem Westen und Norden unseres Kontinents. Des weiteren stellten sich die Migrationsbewegungen des Homo sapiens deutlich anders dar, als bisher angenommen: Offensichtlich gab es auch Rückwanderungen nach Afrika. Und 2015 entdeckten die Archäogenetiker dann zudem eine vierte Stammlinie der heutigen Mitteleuropäer, deren Ursprungsgebiet weder in Nordafrika oder Anatolien noch den Steppen Eurasiens lag, sondern im Kaukasus. 

Bevölkerungsaustausch statt „sanfter Transfer“

Oftmals reagierten die Verfechter der traditionellen Lehrmeinungen hierauf mit Ignoranz oder Ärger. Am schärfsten fielen indes die Reaktionen aus, als es schließlich auch der Theorie von der grundsätzlichen ethnischen Kontinuität in Europa während der letzten Jahrtausende an den Kragen ging. Denn die gehört zu den politisch erwünschten historischen Annahmen, weil sie die Gefahren der Massenmigration und des Einströmens kulturfremder Völker herunterspielt. Zum Ende der Jungsteinzeit seien zwar Töpfe und Ideen gewandert, aber keine Menschen, welche andere aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben oder gar physisch beseitigt hätten. So argumentiert beispielsweise Neil Carlin vom University College in Dublin mit Blick auf das Auftreten der Glockenbecherleute und andere Umwälzungen.

Tatsächlich jedoch erbrachte 2017 eine großangelegte Auswertung von Genomdaten, daß die Träger der Glockenbecherkultur die neolithische Urbevölkerung Großbritanniens bis ca. 2000 v. Chr. zu fast 100 Prozent ersetzten. Was dies in der damaligen Realität bedeutete, kann man sich unschwer vorstellen. 

Einen ähnlichen Schock hatten die Migrationsromantiker unter den Prähistorikern bereits 2015 zu verkraften, als DNA-Analysen das Verschwinden des autochthonen Genpools in Mittel- und Westeuropa belegten – und zwar genau zu der Zeit vor 4.500 bis 5.000 Jahren, als es einen massiven Zustrom von Nomaden aus den Steppen des heutigen Rußland und der Ukraine gab. 2018 wiederum fanden sich dann auch noch konkrete DNA-Belege dafür, daß es während der Völkerwanderung nach dem Ende des Imperium Romanum ebenfalls zu einem realen Bevölkerungsaustausch und nicht nur zum „sanften Transfer“ von Ideen und Kulturtechniken gekommen ist, wie der kanadische  Historiker Walter Goffart und dessen viele Epigonen seit 1980 behaupten.

Die Reaktion auf diese und ähnliche Befunde ist Kritik, die teilweise unter die Gürtellinie geht. Am ehesten berechtigt wäre noch der Einwand, man dürfe Kultur und Biologie nicht zu sehr vermischen, denn die Komplexität der geschichtlichen Vorgänge lasse sich keineswegs nur durch einfache Modelle auf rein genetischer Basis erklären. Das meint beispielsweise der Archäologe Volker Heyd von der University of Bristol. Zugleich äußerte er aber in seinem Aufsatz „Kossinnas Lachen“, die Thesen der Archäogenetiker gemahnen an die Ideen des deutschen Philologen und Prähistorikers Gustaf Kossinna, welche mit in die nationalsozialistische Weltanschauung eingeflossen seien und rassistische beziehungsweise nationalistische Vorurteile befördern. Die Nazi-Keule wird nun also auch im Rahmen des wissenschaftlichen Disputes zwischen Archäologen, Vorgeschichtlern und Historikern auf der einen und Archäogenetikern auf der anderen Seite geschwungen. Doch damit wird sich das unfaire Spiel wohl noch nicht erschöpfen.

Den Dogmatikern unter den Historikern genehm sein

Das zeigt unter anderem die Wortmeldung der jungen Anthropologieprofessorin Ann Horsburgh von der Southern Methodist University in Dallas, welche zwar selbst aDNA-Spuren untersucht, aber ihren Wissenschaftlerkollegen „molekularen Chauvinismus“ unterstellt, der jedwede fruchtbare Zusammenarbeit verhindere. Deswegen sollten Archäologen ihre „Macht“ über das ausgegrabene Material nutzen, um eine „gerechtere Partnerschaft“ einzufordern. Dies könnte ganz schnell darauf hinauslaufen, nur noch dann Überreste zur Analyse herauszugeben, wenn die Leitfragen der Archäogenetiker den Dogmatikern der historischen Zunft genehm sind.

Allerdings gibt es auch Forschungseinrichtungen, an denen die Vertreter der beiden Disziplinen auf ideologische Grabenkämpfe verzichten. Hierzu zählt das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte im thüringischen Jena, in dem Natur- und Geisteswissenschaftler Hand in Hand arbeiten. Ob diese Harmonie freilich auch dann fortbestehen wird, wenn die Hauptgeldgeber der Max-Planck-Gesellschaft, nämlich der Bund und die Länder, realisieren, daß Archäogenetiker oft keine politisch genehmen Befunde produzieren, bleibt abzuwarten.