© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Eine Bartholomäusnacht auf Sansibar
Kolonialismus: Vor 55 Jahren endete die jahrhundertelange Herrschaft der Araber über die ostafrikanische Insel
Erich Körner-Lakatos

Britanniens Prinzgemahl Philipp überreicht am 10. Dezember 1963 Sultan Dschamdid das Dekret, welches das englische Protektorat über Sansibar aufhebt. Das Sultanat bleibt Mitglied des Commonwealth, als dessen kleinster und zugleich schwächster Staat, der nicht einmal Streitkräfte sein eigen nennt. Doch die Herrschaft des Sultans scheint gesichert, die Regierungskoalition aus Nationalpartei (ZNP) und Volkspartei (ZPPP) verfügt im Parlament über 18 Mandate. Die oppositionelle Afro-Shirazi-Partei (ASP) unter Abeid Karume hält 13 Sitze. Doch bereits fünf Wochen später ist die Hölle los. 

In der Nacht auf Sonntag, den 12. Januar 1964, überfallen sechshundert Schwarzafrikaner die Polizeikaserne der Hauptstadt, brechen Waffenlager auf, besetzen alle wichtigen Einrichtungen. Im Morgengrauen verkündet der Sultan den Notstand. In Sansibar-Stadt entbrennen Kämpfe zwischen loyalen Ordnungskräften und Rebellen, letztere behalten die Oberhand. In den nächsten Tagen verlieren viele Bürger, vor allem Angehörige der arabischen Oberschicht und indische Kaufleute ihr Leben. Die Opferzahl schwankt zwischen 800 und 2.000. Dies bei einer Einwohnerzahl von 40.000 Arabern und 17.000 Indern.

Sultan und Premier flüchten auf eine britische Jacht, wenden sich mit einem Hilferuf an London, das sich trotz des Massakers weigert, Truppen zu entsenden. Kenia verweigert dem Sultan Asyl, unter Berufung darauf, daß früher Teile seiner Küste zu Sansibar gehörten und der Sultan wieder Anspruch erheben könnte. Der Herrscher kommt in Tanganjika unter. 

Träger des Aufstands war die Afro-Shirazi-Partei sowie die erst am 4. Januar verbotene linksextreme Umma (Massen-)Partei des Abdul Rachman Babu, bis kurz vorher Generalsekretär der Regierungspartei ZNP. Mitte Januar erfolgte die Ausrufung der Volksrepublik mit dem bisherigen Oppositionsführer Karume als Präsident. Am 16. Januar bildete sich ein Revolutionsrat mit 32 Mitgliedern. 

Ein langes Leben war der Volksrepublik jedoch nicht beschieden: Bereits am 25. April 1964 ratifizierten das Parlament in Daressalam und der Revolutionsrat auf Sansibar einen Unionsvertrag, der Tanganjika und den Inselstaat zur Republik Tansania fusionierte. Sansibar behielt danach eine weitgehende Autonomie; der Chef des Revolutionsrates von Sansibar war gleichzeitig Vizepräsident auf Bundesebene. Ein Kuriosum war die Existenz einer Einheitspartei in beiden Staatsgebieten, jedoch herrschte in jedem Teil eine andere Einheitspartei: auf Sansibar die ASP, in Tanganjika die TANU (Tanganyika African National Union).

Umsturz und Massaker sind heute ohne einen Blick auf Sansibars Geschichte und die Zusammensetzung seiner Einwohner schwer zu verstehen. Die Bevölkerung (1964 etwa 320.000 Einwohner) bestand aus mehreren Gruppen. Am unteren Ende der gesellschaftlichen Pyramide standen die Nachkommen der Sklaven, die aus dem Inneren Afrikas geholt worden waren. Diese Bantus stellen die Mehrheit. Eine Stufe höher standen die Suaheli, also die negroide, jedoch arabisch-persisch beeinflußte Küstenbevölkerung. Ein eigenes, streng abgeschlossenes Element von etwa fünf Prozent bildeten zudem die Inder. Sie hatten die Wirtschaft, in erster Linie den Handel, fest im Griff. 

Sansibar war Drehscheibe arabischer Sklavenhändler

Die oberste Schicht Sansibars bildeten die Oman-Araber, die sich im 19. Jahrhundert endgültig als Herren etablierten. Sie gehören der islamischen Sekte der Ibaditen an, die sowohl von Sunniten als auch von Schiiten Abstand hielten. Seit dem Hochmittelalter, unterbrochen durch die lose portugiesische Herrschaft von 1503 bis 1730, stand die Insel unter Kontrolle dieser arabischen Oberschicht. Die Sultansfamilie stammte aus dem Oman, wo sie seit 1741 das Zepter führte. 1840 verlegte Sultan Said seine Residenz sogar von Maskat am Golf von Oman nach Sansibar-Stadt, somit viertausend Kilometer weiter in den Süden. Erlöst von den Sandstürmen auf der Arabischen Halbinsel sicherten sich Herrscher und Gefolge die besten Lehmböden im Westen Sansibars für ihre Gewürznelkenplantagen. 

Die Insel wurde zugleich Drehscheibe des Sklavenhandels. Die schwarzafrikanischen Sklaven der Araber erhalten zwar vom Eigentümer weder Nahrung noch Kleidung, dafür haben sie wöchentlich zwei freie Tage, an denen sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten und sich auch Ersparnisse zurücklegen können. Das kann als einer der Gründe gelten, daß sich in den ersten drei Monaten nach Kundmachung des Befreiungsdekrets, mit dem die Engländer 1897 in Sansibar die Sklaverei aufhoben, von 140.000 Sklaven nicht einmal ein Promille zur Freilassung meldeten.

Nach Sultan Saids Tod 1856 teilen sich seine beiden Söhne das Erbe, bilden fortan zwei unabhängige Staaten, Oman und Sansibar. Einzige Klammer war das wechselseitige Erbrecht innerhalb der Dynastie. Das nunmehr selbständige Sultanat Sansibar wird mit dem Helgoland-Sansibar-Vertrag vom 1. Juli 1890 englisches Protektorat. Dabei verzichtet Berlin, das als Kolonialmacht Deutsch-Ostafrikas vom Festland Tanganjika die vorgelagerte Insel gar nicht direkt beherrscht, nur auf etwaige Ansprüche auf Sansibar und die ostafrikanische Küste nördlich davon. Im Gegenzug überläßt Großbritannien dem Deutschen Reich die Nordseeinsel Helgoland und dehnt den Anspruch des Reiches in Deutsch-Südwestafrika mit dem Caprivi-Zipfel bis zum Sambesi aus. 

Die Herrschaft der Araber auf Sansibar bleibt von der britischen Kolonialmacht in den kommenden Jahrzehnten jedoch weitestgehend unberührt. Die jahrhundertealten Machtstrukturen enden erst mit der Nacht der langen Messer im Januar vor 55 Jahren.