© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Stabiler als ihr Ruf
Der Historiker Robert Gerwarth über die Revolution von 1918 und die nachfolgende Weimarer Republik
Stefan Scheil

Beim liberalen Berliner Tageblatt war man mit den neuen Verhältnissen sehr zufrieden, nach dem Umsturz im November 1918. Chefredakteur Theodor Wolff glaubte gar, die „größte aller Revolutionen“ erlebt zu haben. Nie sei ein derart stabiles Gebäude so leicht und ohne Verluste weggeräumt worden wie das wilhelminische Kaiserreich in den letzten Tagen. Noch eleganter sei dies geschehen als während der weitgehend unblutigen „Glorious Revolution“ im Großbritannien des 17. Jahrhunderts. Damals segelten die adligen Revolutionäre mit Kriegsschiffen die Themse hinauf und brachten die Regierung kampflos zum Einsturz. In Berlin mußte nicht einmal gesegelt werden, vom Adel ohnehin nicht. „Gestern früh war alles noch da, gestern nachmittag existierte nichts mehr davon“, notierte Theodor Wolff am 10. November 1918 in sein Tagebuch. 

Robert Gerwarth nimmt diese und andere Beobachtungen zum Anlaß, um einen neuen Blick auf den deutschen November des Jahres 1918 zu werfen. Seine Ausgangspunkte sind diese: Damals hätte die vor 1989 überhaupt einzige Revolution in einem hochindustrialisierten Staat stattgefunden. Sie sei weitgehend unblutig verlaufen und sie habe realistische Perspektiven für eine dauerhafte Demokratisierung Deutschlands geschaffen. Auch habe sich die Weimarer Republik durchaus als eine wehrhafte Demokratie gezeigt, die es mit den zahlreich vorhandenen Demokratiefeinden von links wie rechts lange Zeit aufnehmen konnte und sie in Schach hielt, bis ihr die katastrophale Weltwirtschaftkrise die Mittel dafür aus der Hand schlug.

Die demokratische Umwälzung in Deutschland also als unzureichende Revolution zu sehen, wie es die Linken damals taten, wäre falsch. Sie als West-import und bloß erzwungene Folge der Niederlage zu deuten, wie es von der damaligen Rechten zu hören war, dies hält Gerwarth ebenfalls für ungerechtfertigt. Im Gegenteil, unter der Überschrift „Torpedierung von außen: Versailles“ wird die Politik der Siegermächte als das eingestuft, was sie objektiv gewesen ist: eine willkürliche Politik, die auf finanzieller Ebene völlig unerfüllbare Forderungen stellte und mit Entscheidungen wie dem Beitrittsverbot für Österreich oder der Teilung Oberschlesiens trotz gegenteiliger Volksabstimmungsergebnisse gegen demokratische Prinzipien wie das der Selbstbestimmung der Völker verstieß. Derart torpediert, konnte die Weimarer Republik nur schwer Kurs halten, stellt der Autor zu Recht fest.

Immerhin tat sie es in den ersten Jahren trotzdem mit Erfolg. Putschversuche und Aufstände von links wie rechts wurden erfolgreich niedergeschlagen. Als „streitbare Demokratie“ setzte sich das Weimarer System bis Ende 1923 durch, wie das entsprechende Kapitel überschrieben ist.

Das ist in den Grundzügen natürlich alles andere als neu, und wem vieles davon bekannt vorkommt, der liegt nicht falsch. Gerwarth erzählt es jedoch auf eine andere Art, als es bisher berichtet wurde, er deutet also um. Im Ergebnis führt das zu einem originellen Blick, den man sich mit Gewinn gönnen kann. 

Bei manch naheliegenden Fragestellungen hält sich der Autor mit eigenen Wertungen zurück. Die unvermeidlich auch hier abzuhandelnde Kriegsschulddebatte für 1914 schildert er beispielsweise ohne eigenes Urteil. Man wird darauf hingewiesen, wie Deutschland 1918 als Aggressor von 1914 gebrandmarkt wurde. Aber Gerwarth schweigt sich darüber aus, ob das nun stimmte oder nicht. Christopher Clark und andere kommen im Buch nicht vor.

Möglicherweise hält Gerwarth solche Debatten für „strategisch unklug“. Dieses Urteil fällt er nämlich über den Auftritt des deutschen Gesandten Brockdorff-Rantzau, der diese Schuld im Mai 1919 in Versailles in einer Rede gegenüber den Alliierten ausdrücklich bestritt. Dadurch sei US-Präsident Woodrow Wilson verärgert worden, den er als einzigen potentiellen Fürsprecher der Deutschen einstuft. „Die Deutschen sind wirklich ein dummes Volk“, wird Wilsons Reaktion zitiert. „Sie tun immer das Falsche.“ Allerdings räumt Gerwarth gleich ein, daß auch ein anderes Verhalten der deutschen Delegation wohl keinen nachweisbar besseren Effekt erzeugt hätte. 

Überhaupt spielen die USA bei Gerwarth eine merkwürdige Rolle. Er schreibt US-Präsident Wilson einen „strikten Neutralitätskurs“ zu, räumt aber nur wenige Seiten später ein, die US-amerikanische Wirtschaft habe sich lange vor Kriegseintritt im wesentlichen mit der Produktion von Kriegsmaterial für die deutschen Gegner beschäftigt. Das geschah zudem noch auf Kredit, also mit geliehenem amerikanischem Geld, das die US-Amerikaner später nie wiedersehen sollten. Als Konsequenz wurde in den 1930ern eine umfangreiche „Neutralitätsgesetzgebung“ erlassen, um den Wiederholungsfall zu verhindern. Womit in den USA nebenbei ein vernichtendes Urteil über Wilsons Scheinneutralität gesprochen war.

Ursachen des Scheiterns nicht in Deutschland

Es gab eine Zeit, da lag die jetzige Vergangenheit noch in der Zukunft, und zwar in einer Zukunft, die damals niemand kennen konnte. Gerwarth ist durchgehend dem Prinzip verpflichtet, die Dinge unter diesem Gedanken zu betrachten. So schreibt er der neuen deutschen Demokratie das Potential zu, eine dauerhafte Lösung zu werden. Am Ende des Jahres 1923 sei das Scheitern der Demokratie weit unwahrscheinlicher gewesen als ihre Konsolidierung. „Die Zukunft der Weimarer Republik war zu diesem Zeitpunkt vollkommen unvorhersehbar“, lautet sein Fazit.

Dem wird man zustimmen müssen. Auch die Deutschen der Weimarer Ära neigten nicht zu Radikalität und hätten sich letztlich in einer Republik zurechtgefunden, wenn diese Republik in der Lage gewesen wäre, die anstehenden und die neu aufkommenden Probleme zu lösen. Eben dies aber gelang immer weniger und schließlich gar nicht mehr. Trotzdem blieb der Untergang der Weimarer Republik bis zuletzt ein Ergebnis zufälliger Entwicklungen, deren Ursachen vielfach nicht in Deutschland zu finden waren. Mochte die Revolution von 1918 in manchen innerdeutschen Augen eine „große“ gewesen sein, in den Augen des Auslands war sie das nicht. Deutschland blieb für viele ein Problem, vor der Revolution und danach.

Robert Gerwarth: Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit. Siedler Verlag, München 2018, gebunden, 384 Seiten, 28 Euro