© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/19 / 18. Januar 2019

Oberbayern in Amerika
Wie sich eine sterbende US-Kleinstadt als Alpendorf neu erfand
Bernd Rademacher

In den fünfziger Jahren begann der Niedergang von Leaven­worth. Nach der Schließung des großen Güter-Bahnknotenpunktes drohte das Zweitausend-Seelen-Örtchen im US-Bundesstaat Washington zur Geisterstadt zu werden. Doch statt zu resignieren und ihre Heimat aufzugeben, erfanden die Bewohner sie einfach neu: als bayerische Alpenidylle mit allen Schikanen. Verwirklicht wurde die Idee gemeinsam mit privatem Kapital. Seitdem ist Leavenworth eine Touristenattraktion: Pro Jahr besuchen rund zwei Millionen Gäste das Bayerndorf am Highway 2.

Das ganze Jahr über erleben die Besucher „typisch bayerische Folklore“: vom Aufstellen des prächtigen Maibaums bis zum Oktoberfest, vom Christkindlmarkt bis zum Akkordeon-Festival. Das Programm der „Leavenworth Festhalle“ ist rappelvoll, genauso wie das des „Kinderfestes“. Und auch auf den Straßen wird schon mal Schuhplattler getanzt oder ein Alphorn-Konzert zum besten gegeben.

Der Ort sieht aus wie Prien am Chiemsee: Geranienkästen, oberbayerische „Lüftl-Malereien“ an den Hausfassaden (Burschen in Lederhosen, Jäger und Sennerin etc.), Einwohner mit Tracht und Dirndl. Obwohl Leavenworth nur 350 Meter hoch liegt, wirkt die Illusion perfekt, weil das Dorf ringsum von hohen Bergen mit Fichtenwäldern umgeben ist, die tatsächlich eine alpine Kulisse simulieren.

In den rund 150 Hotels und Pensionen sowie knapp 50 Restaurants werden Schnitzel und Sauerbraten serviert, das Craft-Bier kommt stilecht im Maßkrug an den Tisch. Das erste Hotel am Platz ist die „Bavarian Lodge“. Das Haus mit dem Hirschgeweih im Logo wirbt mit dem Slogan: „Welcome in the heart oft he Bavarian Village“. Zum Haus gehören der „Sausage Garden“ und der rustikale „Woodsman Pub“. Der Prospekt verspricht Bergpanorama und Freizeitspaß von Schlittenfahrt bis Schuhplattler. Die großzügigen Zimmer und Appartements bieten modernen Komfort, sind aber allesamt mit viel Naturholz und Bauernmalerei gestaltet. Eine besondere Vorliebe haben die Dekorateure augenscheinlich für riesige Wanduhren im Retro-Look. Offenbar gelten diese als echt bayerisch.

Die Bayern-Amis geben alles: Das Festbier wird natürlich in Holzfässern auf Pferdewagen herbeigerollt, die von vier geschmückten Kaltblütern gezogen werden. Bei der zünftigen „Herbst Parade“ lassen Trachtenträger Alphörner und „original Yodeling“ auf der Mainstreet erschallen. Das Nußknackermuseum zählt inzwischen stolze fünftausend Exponate.

Die Bemühungen zahlen sich aus: Auf dem Bewertungsportal Trip Advisor wird Leavenworth uneingeschränkt empfohlen. Das Evening Magazine wählte die „Bavarian Lodge“ 2017 zum besten Hotel im Nordwesten der USA. Der „Weekend Sheriff Report“ im Leavenworth Echo zeigt übrigens kaum Einträge, nur kleine Bagatelldelikte.

Im Winter lockt  ein Skigebiet

Darauf ist Bürgermeisterin Cheri Farivar sehr stolz. Anfang der 1960er waren bereits die ersten Häuser mit Brettern vernagelt, und die Familien suchten ihr Glück woanders. Auf der Suche nach einem Ausweg entstand in langen Diskussionen das Konzept mit dem Motto „Bavarian Village“. Einige deutschstämmige Einwohner wirkten maßgeblich am Design der neuen Häuser mit. So wurde das fast ausgestorbene Dorf im Tal einer Bergkette im Chelan County in Eigeninitiative zum prosperierenden Touristenziel in Weiß-Blau.

Jetzt im Winter bietet Leaven­worth über 25 Kilometer Langlaufpisten und ein Skigebiet mit neun Liften für Alpin-Skisport. Außerdem will man noch weiter aufrüsten: Für die nächste Zeit sind auch „Wine Tours“ geplant.