© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Opfer des dauerhaften Alarmzustandes
Anhaltende Proteste in Frankreich: Nicht nur Gelbwesten klagen an – Polizisten setzen Gummigranatwerfer oft vorschriftswidrig ein
Jürgen Liminski

Tausend Verletzte bei den Sicherheitskräften, 1.700 bei den Gelbwesten. Das ist die vorläufige Bilanz der zehn Wochen Protest mit Gewaltaktionen in Frankreich seit Mitte November. Unter den Verletzten der Gelbwesten sind auch einige Dutzend Schwerverletzte, mehrere mit bleibenden Schäden. 

Vier Demonstranten haben ein Auge verloren, zwei eine Hand.  Der Augenverlust geht auf die Schüsse durch die  LBD (Lanceurs de balle de défense) zurück, die die französische Polizei seit drei Jahren benutzt. Sie sind in Skandinavien verboten, flächendeckend ausgerüstet ist die Polizei damit in Griechenland, Spanien und der Türkei. 

Videos im Netz sprechen eine deutliche Sprache  

Dabei handelt es sich um Gewehre, die wie kleine Granatwerfer funktionieren und mit Gummikugeln von vier Zentimetern Durchmesser geladen werden. Das Wurfgerät darf nur auf Anordnung der Einsatzleitung benutzt werden und wegen seiner Gefährlichkeit auch nur bei einer Mindestdistanz von zehn Metern. Außerdem soll nur auf Brust, Arme und Beine gezielt werden. 

Dennoch ist das Gewehr in diesen zehn Wochen oft vorschriftswidrig  im Gefechtsgetümmel auf den Pariser Prachtstraßen zum Einsatz gekommen, vor allem nach den ersten zwei Adventssamstagen mit den Ausschreitungen und Verwüstungen. Die vielen Kopfverletzungen belegen den vorschriftswidrigen Einsatz. Mehr als hundert Fälle sind registriert, siebzig davon wurden als offizielle Anzeigen gegen die Polizei formuliert. In den sozialen Netzen kursieren Zeugenaussagen von Polizisten, die willkürliche Einsätze bestätigen – und beklagen. 

Erstaunlich war das laue Medienecho auf die harte Reaktion der Polizei nach den Gewaltausbrüchen. In den Nachrichtensendungen der beiden Hauptprogramme TF1 und France 2 wurden die Einsätze mit LBD knapp behandelt. Dafür erregten sie das Netz um so mehr. Zahllose Bilder von verunstalteten und blutigen Gesichtern gingen viral, befeuert von Aussagen des Innenministers, der „von keinem einzigen Polizisten weiß, der gegen die Vorschrift gehandelt hätte“. 

Dabei sprechen mehrere Videos eine klare Sprache. So wurde ein gerade dekorierter Offizier gezeigt, der auf einen Mann in gelber Weste einprügelt, obwohl dieser sich nicht wehrt. Ebenso wurde der Einsatz  bewaffneter Polizisten gefilmt, die in ein zerstörtes Fast-Food-Restaurant stürmten, in das sich etliche Demonstranten geflüchtet hatten, und dort wahllos auf alles einschlagen, was eine gelbe Weste trägt. 

Überforderte Polizisten und wutentrannte Gelbwesten 

Eine Demonstrantin berichtet im Netz, wie sie vor der Gewalt floh, dann aber in diesem Restaurant niedergeschlagen wurde und keine Gelegenheit zur Flucht fand, weil die Polizisten die Ausgänge blockiert und mit Schlagstöcken herumgeschlagen habe.

Offensichtlich hatten die Sicherheitskräfte die Anweisung bekommen, mit aller Härte gegen die Schlägertrupps, vor allem die vermummten Angreifer, vorzugehen. Diese hatten mit Gittern und Pflastersteinen die Polizisten beworfen und versucht, einzelne Polizisten aus dem Pulk herauszuholen und dann mit Tritten und Fäusten zu malträtieren. Ebenfalls viral ging die Szene, als der ehemalige Boxchampion Christophe Dettinger gekonnt einen Polizisten niederstreckte. Er stellte sich der Polizei und gab an, die Nerven verloren zu haben, als er sich und seine Familie im Gewühl umzingelt sah. 

 Keine der beiden Seiten zeichnet sich durch kühle Überlegung aus. Die Polizisten, die sich de facto seit mehr als drei Jahren in einer Art Daueralarmzustand befinden, sind am Ende ihrer psychischen und physischen Kräfte. Zuerst die Terrorgefahr mit dem Ausnahmezustand, jetzt die anhaltenden Demonstrationen – der Erschöpfungszustand der Beamten wird kaum durch ein paar freie Tage oder eine einmalige Einsatzprämie geändert. Seit mehr als einem Jahr ist die Selbstmordquote bei den Sicherheitskräften überdurchschnittlich hoch. 

Die Gelbwesten wiederum sind durch die Gewaltaktionen der Polizei noch wütender geworden und damit auch unzugänglicher für Präsident Emmanuel Macrons Argumente.