© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Erdogan rüstet auf
Türkei: Investitionen in die heimische Rüstung tragen Früchte / High-Tech-Projekte als Problem
Hans Brandlberger

Während die meisten Nato-Mitglieder nicht willens oder in der Lage sind, die dem Bündnis zugesagten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aufzubringen, überspringt die Türkei diese Hürde schon fast traditionell mit Leichtigkeit.

 2,2 Prozent waren es 2017, doch nicht einmal sie scheinen auszureichen, um die zweitgrößte Streitmacht der Allianz bedarfsgerecht auszustatten und zu unterhalten. Das türkische Militär ist zwar dank Erdogan nun von der Bürde befreit, eine kemalistische Ordnung im Innern notfalls gegen den Willen der Bürger garantieren zu müssen und kann sich ganz auf die Verteidigung des Landes gegen äußere Bedrohungen oder separatistische Aufstände konzentrieren.

Balance zwischen Peking, Moskau und Washington 

Gerade dadurch treten die Ausrüstungsmängel aber um so stärker ans Tageslicht. Das Waffenarsenal der türkischen Streitkräfte ist weitgehend veraltet, die technischen Standards sind eine Generation, wenn nicht gar mehr, hinter jenen zurück, die heute möglich wären. Dies reicht zwar immer noch aus, um kurdische Freischärler in Schach zu halten. Der Anspruch, eine Regionalmacht zu sein, läßt sich dadurch militärisch aber nicht untermauern.

Dieses Defizit ist nicht neu, und die Türkei ist auch seit einigen Jahren bemüht, es zu beheben. Rüstungsprojekte brauchen aber ihre Zeit, bis sie zum Tragen kommen, und wenn sie in Ermangelung einer ausreichenden eigenen industriellen Basis in internationaler Kooperation entstehen müssen, sind sie zudem politischen Risiken ausgesetzt.

Diese Erfahrung macht die Türkei in diesen Tagen aufs neue. Seit 1999 ist sie an der Entwicklung der F-35 Lightning II als dem derzeit wahrscheinlich modernsten Kampfflugzeug der Welt beteiligt und liefert als sogenannter „Level-3-Partner“ sogar einige Schlüsselkomponenten zu. 

Nun versucht der US-Senat jedoch zu verhindern, daß die vertragsgemäße Auslieferung der ersten von insgesamt mindestens 100 Kampfflugzeugen erfolgt. Zwar wurden zwei Maschinen im Juni 2018 in einer offiziellen Zeremonie bereits übergeben, doch sind sie zunächst in den USA auf der Luke Air Force Base verblieben, wo türkische Piloten von der US-Luftwaffe ausgebildet werden. 

Einer der Gründe für die Embargodrohung ist mit der Mitte Oktober erfolgten Entlassung des evangelikalen Pastors Andrew Brunson aus türkischer Haft zwar entfallen. Der andere wiegt allerdings um so schwerer: Die Türkei erwägt, ihre Luftverteidigung in den nächsten Jahren ausgerechnet auf das von der Nato gefürchtete System S-400 des russischen Herstellers Almas-Antei abzustützen. Dies wird nicht nur als Signal für eine geopolitische Hinwendung zu neuen Allianzen verstanden. 

Ganz praktisch wittern die USA die Gefahr, daß mit türkischer Hilfe Erkenntnisse gewonnen werden könnten, wie eine F-35 trotz ihrer Stealth-Eigenschaften von einer feindlichen Luftverteidigung aufgeklärt werden kann. Zunächst sind es lediglich zwei S-400-Systeme, die im September 2018 bestellt wurden, das erste soll aber bereits im Herbst 2019 zur Verfügung stehen. 

Die Türkei ist schon seit mehreren Jahren bemüht, die für die Souveränität eines Landes unerläßliche Fähigkeit zur Verteidigung des eigenen Luftraums zu erwerben. Zwischenzeitig hatte sie sogar erklärt, einem chinesischen Anbieter den Vorzug geben zu wollen, um dann nach Protesten der Verbündeten doch wieder von diesem Vorhaben abzurücken. Verhandlungen über eine Beteiligung am weit verbreiteten US-System Patriot scheiterten bislang am türkischen Verlangen, Einblicke in die Software zu erlangen. 

Seine grundsätzliche Bereitschaft, einem Export zuzustimmen, hat der amerikanische Außenminister bekräftigt. Allerdings scheint die Türkei die S-400 auch eher als eine Zwischenlösung zu betrachten, um längerfristig auf diesem Technologiefeld auf eigenen Füßen stehen zu können. Im Januar 2018 wurde mit dem französischen Konsortium Eurosam eine Vereinbarung geschlossen, die sich dessen Mitwirkung an der Entwicklung eines autochthonen Luftverteidigungssystems unter Federführung der staatseigenen Konzerne Aselsan und Roketsan sichert.

Kein Kampfpanzer „Altay“ ohne ausländische Hilfe 

Die Türkei folgt hier wieder einmal ihrer etablierten Strategie, stets mehrere Eisen im Feuer zu haben. Manchmal kann es dabei aber auch vorkommen, daß keines von ihnen zum Glühen gebracht werden kann. 

Der Griff nach den Sternen ist der Türkei bislang auf keinem Gebiet der Verteidigungstechnologie so recht gelungen. Weiterhin mit Skepsis sind daher insbesondere auch die Bestrebungen zu betrachten, in den erlauchten Kreis der wenigen Nationen aufzusteigen, die in der Lage sind, ein Kampfflugzeug der fünften Generation in Eigenregie zu entwickeln. 

Der Startschuß für den Stealth-Fighter TF-X liegt unterdessen auch schon acht Jahre zurück. Über Konzeptstudien mit relativ bescheidenem Budget ist man bislang nicht hinausgekommen. Ohne ausländische Hilfe ging und geht es auch in diesem Vorhaben nicht. 

Der ebenfalls staatseigene Konzern Turkish Aerospace Industries (TAI) hat zwar durch die Lizenzproduktion des von der türkischen Luftwaffe geflogenen Kampfflugzeuges F-16 einen Know-how-Sprung verzeichnen können. Das erste Brainstorming zu TF-X nahm man dann aber doch lieber mit dem schwedischen Unternehmen Saab als einem erfahrenen Entwickler und Hersteller so preiswerter wie moderner Flugzeuge vor. 

Sollte es zur Realisierung dieses ambitionierten Projekts kommen, werden wesentliche Komponenten wie insbesondere das Triebwerk nicht aus türkischer Quelle stammen können. Überraschenderweise wurden ausgerechnet auf diesem Gebiet die Ambitionen zurückgeschraubt. Statt Rolls-Royce wird nun GE Aviation mit einem zwar bewährten, aber eben doch technologisch angestaubten Triebwerk als Partner gehandelt.

Auch das Leuchtturmvorhaben der Landstreitkräfte, der Kampfpanzer Altay, muß sich auf ausländisches Know-how abstützen. Das Design des 2012 von dem Unternehmen Otokar vorgestellten Prototypen basierte auf einem südkoreanischen Modell.  

Vor wenigen Wochen wurde nun der Serienauftrag für ein erstes Los von 250 Fahrzeugen vergeben. Produziert wird es allerdings nicht von Otokar, sondern von dem türkisch-katarischen Unternehmen BMC, das an der Nähe zur Regierungspartei AKP weniger Zweifel aufkommen läßt als der einer Treue zu seinen kemalistischen Ursprüngen verdächtigte und daher sukzessive ausgebootete Mitbewerber. Gerne hätte sich auch das deutsche Rüstungsunternehmen Rheinmetall wesentlich in dieses lukrative Vorhaben eingebracht. Nicht zuletzt zu diesem Zweck war 2017 ein Gemeinschaftsunternehmen mit BMC und der malaysischen Holding Etika Strategi gegründet worden. 

Der politische Gegenwind aus Berlin läßt von Rüstungsgeschäften mit der Türkei derzeit aber eher abraten, will man sich nicht das Wohlwollen bei heimischen Aufträgen verscherzen. Auf die Zusammenarbeit mit Rheinmetall wird BMC beim Bau des Altay wahrscheinlich problemlos verzichten können. Etwas komplizierter ist es, auf die Mitwirkung von MTU Friedrichshafen (Motor) und der VW-Tochter Renk (Getriebe) zu verzichten. Alternativen dürften aber auch hier zu finden sein.

 Die Lücke, die die Deutschen durch Exportrestriktionen freimachen, wird durch Mitbewerber gerne und schnell wieder geschlossen. Auf der türkischen IDEF-Rüstungsmesse in Istanbul im April 2017 glänzten die deutschen Unternehmen durch Zurückhaltung oder mußten sich sogar anhören, daß man sie eigentlich gar nicht mehr benötige. Die durch ihre staatliche Institution zur Rüstungsexportförderung koordinierten Briten konnten hingegen Aufträge und Kooperationsvereinbarungen mit türkischen Partnern feiern.

Kemalistische Seilschaften sind entmachtet 

Die schrittweise Entmachtung des Militärs in der Ära Erdogan hat ihre Spuren auch in der staatlichen Beschaffungsorganisation und der Aufstellung der Rüstungsbranche hinterlassen. Seit dem Ende der 1980er Jahre fungierte das Untersekretariat für die Verteidigungsindustrie (SSM) als eine dem Verteidigungsministerium unterstellte Spinne im Netz für alles, was irgendwie mit Rüstung zusammenhing. 

Man identifizierte den Bedarf der Streitkräfte, plante und steuerte Beschaffungsvorhaben, sorgte für deren Finanzierung, gründete Rüstungsbetriebe, unterstützte öffentliche wie private Unternehmen, brachte internationale Kooperationen auf den Weg und förderte den Export. Mitunter griff auch noch die Stiftung der türkischen Streitkräfte (Turkish Armed Forces Foundation) ein und stieß mit Fördergeldern Forschungs- und Entwicklungsprojekte an. 

Die Militärs festigten auf diese Weise nicht bloß ihre Stellung als Staat im Staate. Sie verfügten damit zugleich über üppige Ressourcen, mit denen sich ein weit verzweigtes Klientelsystem betreiben ließ. Dieses ist unterdessen auf neue Herren übergegangen. Im Zuge der Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem wurde die einstige SSM zum Jahreswechsel 2017/2018 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt und firmiert seither als Direktorat für die Verteidigungsindustrie (SSB). 

Die Zeit, in der sich kemalistische Seilschaften in Rüstungsbehörde und staatlichen Industrieunternehmen noch gegen die auf AKP-Ticket aufgestiegenen Widersacher behaupten konnten, scheint allmählich abgelaufen. Manche haben noch gerade rechtzeitig die Seiten gewechselt. 

Die Zielsetzung der einstigen SSM wird trotz all dieser Umbrüche unverändert auch unter dem neuen Namen verfolgt. Die Türkei versteht sich als regionale Ordnungsmacht in strategischer Autonomie. Dies erfordert, daß sie in der Lage ist, den wesentlichen Bedarf an Waffensystemen im eigenen Land zu decken. Wo es um ambitionierte High-Tech-Projekte geht, stößt sie hier aber noch an Grenzen. 

Auf zahlreichen anderen Gebieten hat die Industriepolitik dagegen Früchte getragen. Türkische Unternehmen wie Aselsan, Roketsan, und TAI sind heute in der Lage, geschützte Fahrzeuge unterschiedlichster Bestimmung, unbemannte Luftfahrzeuge, Handwaffen, Luftabwehrraketen des Typs Hisar, Mehrfachraketenwerfer (TR-122) oder die Korvetten und Fregatten der Milgem-Klasse auf hohem Niveau zu produzieren, um damit nicht allein den heimischen Bedarf zu decken, sondern auch auf Exportmärkten, vor allem in Nahost und Asien, erfolgreich zu sein. 

1974, als sich die Türkei nach der Invasion in Nordzypern einem Waffen-embargo der USA ausgesetzt sah, mußte sie noch nach neuen Partnern Ausschau halten, um diese dann in Israel zu finden. Heute hat sie sich aus dieser Abhängigkeit vom Ausland ein großes Stück weit befreit – und wo dies noch nicht der Fall ist, stehen in Rußland und China Alternativen bereit, die nur zu gern in die Bresche sprängen, sollte der Westen die Zusammenarbeit aufkündigen.

Foto: Präsident Recep Tayyip Erdogan (2.v.r.) erhält im Beisein des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar (r.) am 4. November 2018 ein Modell der Korvette „TCG Burgazada“ zum Geschenk: Die Milgem-Klasse ist das erste rein türkische Kriegsschiffprogramm