© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Aus Interesse für lebende Leichen
Feierabend in Europa: Was Michel Houellebecq mit dem DDR-Dramatiker Heiner Müller verbindet
Thorsten Hinz

Michel Houellebecqs neuer Roman „Serotonin“ wurde in Deutschland offiziell am 7. Januar veröffentlicht. Der Erscheinungstag verfehlte den 90. Geburtstag des 1995 verstorbenen Heiner Müller nur um zwei Tage. Die Beinahe-Koinzidenz ist zufällig, sie enthält aber einen zeichenhaften Hinweis auf Gemeinsamkeiten zwischen dem 1956 geborenen Bestsellerautor aus Frankreich und dem Sachsen, der dem Jahrgang 1929 angehörte und von der DDR aus den Weltgeist zu erfassen versuchte. Beider Werke reflektieren das moribunde Eu-ropa im Modus der Vergangenheit. Die Figuren und Konflikte werden mit dem analytischen Interesse von Pathologen behandelt, die sich für die Zuckungen von Untoten interessieren.

In Heiner Müllers assoziativem Theaterstück „Die Hamletmaschine“ wird die Frage „Sein oder Nichtsein“ überhaupt nicht mehr gestellt. Der Eingangsmonolog hebt an: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLA BLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“ Er weiß: „Ich spiele keine Rolle mehr … Mein Drama findet nicht mehr statt.“ Ophelia, die im Shakespeare-Drama nur das Objekt der Männerwelt ist, versucht sich zu emanzipieren, mit allerdings katastrophalem Ergebnis. Der Text wurde 1977 verfaßt, als Europa unter den zwei Supermächten aufgeteilt war und die „Freiheit“ (West) und der „Sozialismus“ (Ost) sich unversöhnlich gegenüberstanden.

Bürgerrechtler stehen wieder am Rande

Als 1989 die Konfrontation endete, stand der Theaterredakteur der FAZ, Gerhard Stadelmaier, nicht allein mit seiner Meinung, als er Müller für obsolet erklärte. Er sei bloß ein „großer Pfau und kleiner Clown“ gewesen, „der große Einverstandene: der Außenseiter als Affirmator“, der 20 Jahre lang auf der Mauer herumgeturnt hätte und mit ihr gefallen sei. Man nahm Müller übel, nicht laut und vernehmlich gegen den real existierenden Sozialismus protestiert zu haben.

Die Funktionäre in der DDR hatten Müllers Texte gründlicher gelesen. 1978 war im SED-Zentralorgan Neues Deutschland ein Grundsatzartikel des Ästhetik-Professors und Direktors des SED-Instituts für Kultur- und Kunstwissenschaften, Hans Koch, erschienen, der seine „Beklemmung“ über die „Hamletmaschine“  kundtat und darin die „Zurücknahme dessen, was da vage als unsere Welt gedeutet ist“, wahrnahm. Entschieden wies er den Verdacht zurück, ob der Text „auch nur die Spur eines Anspruchs, wahr und allgemein bedeutend zu sein“, enthielte. Acht Jahre später, im Juni 1986, vollzog der Dogmatiker eine dramatische Korrektur, die Müllers dunkler Dichterphantasie entsprungen sein könnte. Er verließ türenknallend eine Disziplinarsitzung und hängte sich in einem Wald bei Berlin auf. Im Kofferraum seines Autos lagen das SED-Parteibuch und das Parteiabzeichen, obenauf ein Zettel: „Mich findet Ihr nie.“ Volker Braun schrieb darüber ein Gedicht, das im Hamlet-Müller-Tonfall endete: „Im Hochwald hängt Hans Koch/ In unästhetischem Zustand/ DAS TAGWERK IST VOLLBRACHT./ S IS FEIERAHMD. GANZ SACHTE SCHLEICHT/ DE NACHT.“

Der real existierende Sozialismus war für Müller längst eine nekrophile Angelegenheit, die den Protest nicht mehr lohnte. Andererseits wirkte er als geschichtliche Notbremse, weil er den Kapitalismus in ein Konkurrenzverhältnis und damit zur Selbstkontrolle zwang. Die Revolution von 1989, die auch den SED-Staat hinwegspülte, war aus dieser Perspektive unvermeidlich und trotzdem ein Treppenwitz: eine Pointe, die den Beteiligten erst nachträglich aufging. Zum Beispiel den Bürgerrechtlern, die heute wieder da stehen, wo sie in der DDR standen: am Rande, halbe Staatsfeinde bereits, während alte und junge Genossen sich als Demokraten etabliert haben und erneut die Spielregeln bestimmen.

Das ist die eine Facette in Müllers Werk. Eine andere steckt in der Szenenfolge „Der Auftrag“. Drei Abgesandte des Pariser Konvents versuchen die Revolution in die Karibik zu exportieren, als ihnen durch den Regimewechsel in Frankreich die Auftraggeber abhanden kommen. Außerdem müssen sie feststellen, daß ihre Vorstellungen vom Fortschritt nicht mit denen der schwarzen Sklaven identisch sind. „Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende.“ Eine schwarze Revolution soll es sein. Müller hatte sehr genau Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ gelesen, wo es heißt: „Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.“ Müller übersetzt den Aufstand der Dritten Welt für seine europäischen Erfinder: „TOD DEN BEFREIERN heißt die letzte Wahrheit der Revolution.“ 

Für Müllers wuchtige Vorlage liefert der eine Generation jüngere Houellebecq die Feintextur. Im Roman „Unterwerfung“ verbündet die Linke sich mit einer vorgeblich gemäßigten Muslim-Partei, um den Sieg der Rechten zu verhindern. Es gibt keine Brandmauer aus europäischen Überzeugungen mehr. Überzeugend wirken allein die Demographie, das Geld der Golfstaaten und die Aussicht auf Vielweiberei.

Motive, die aus früheren Romanen bekannt sind

Der Ich-Erzähler des neuen Buches „Serotonin“, der 46jährige Florent-Claude Labrouste, stellt nun die leibhaftige Karikatur des müden weißen Mannes dar. Er haßt seinen weibisch klingenden Vornamen und die Eltern für ihre Namenswahl. Er ist „ein abendländischer Mann in mittleren Jahren, der finanziell für einige Jahre vorgesorgt hatte, ohne Angehörige oder Freunde, ohne persönliche Projekte oder echte Interessen, tief enttäuscht von seinem bisherigen Berufsleben, der auf der Gefühlsebene verschiedene Erfahrungen gemacht hatte, denen aber durchweg gemein gewesen war, daß sie irgendwann abgebrochen waren, letztlich ohne einen Grund zu leben oder einen Grund zu sterben.“ Er arbeitet im Landwirtschaftsministerium, wo er die Zerstörung der französischen Landwirtschaft durch die EU notifiziert. Die Beziehung zu seiner japanischen Freundin basiert ausschließlich auf Sex. Er trennt sich von ihr, als er Videos mit perversen Orgien entdeckt, für die sie sich zur Verfügung stellt. Er gibt Arbeit und Wohnung auf und verschwindet vollständig aus der bürgerlichen Welt.

Houellebecqs neues Buch ist kein Meisterwerk. Es vereint und variiert Motive, die aus früheren Romanen bekannt sind: den Sex als erweiterte Kampfzone (die am Ende aufgegeben wird); den pädophilen Akademiker aus Deutschland; die holländischen Nudisten. Der spanische Caudillo Franco wird als Begründer des modernen Massentourismus gelobt – eine kleine provokante Spitze, die niemanden schmerzt. Der Alkohol fließt wie immer reichlich. Nur der Islam wird vorsichtshalber nicht mehr erwähnt. Dafür wird der Erzähler Zeuge eines Sozialprotests, der den Aufruhr der „Gelbwesten“ vorwegnimmt. Sein Studienfreund, der dem normannischem Uradel entstammt und in einem heruntergekommenen Schloß lebt, kann seinen Landwirtschaftsbetrieb nur noch aufrechterhalten, weil er scheibchenweise Ländereien verkauft, vorzugsweise an chinesische Investoren. Bei einer bäuerlichen Straßenblockade erschießt er sich und endet zumindest selbstbestimmt, denn Adel verpflichtet. Politisch bleibt die schöne Geste wirkungslos.

Florent-Claudes letzter Anker ist ein Antidepressivium, das den Serotonin-Spiegel hebt: Eine „kleine, weiße, ovale, teilbare Tablette. Sie erschafft nichts, und sie verändert nichts; sie interpretiert. (...) Indem sie das Leben in eine Abfolge von Formalitäten verwandelt, läßt sie Veränderung zu. Mithin hilft sie den Menschen zu leben oder zumindest nicht zu sterben – über eine gewisse Zeit hinweg.“ Außerdem macht sie impotent. Den Frauen, die bei Houellebecq vor allem als personifiziertes Geschlechtsorgan von Interesse sind, geht es kaum besser. Auch sie sind einsam, unbefriedigt, dem Alkohol verfallen. 

Heiner Müller läßt Ophelias Emanzipationstrip im Rollstuhl enden, wo sie von Männern mit Mullbinden umwickelt wird. Es wirkt wie ein Gleichnis auf die „Metoo“-Aktivistinnen, die den weißen Mann domestiziert, den übergriffigen Machismo-Kulturen aber nichts entgegenzusetzen haben. Während im Fluß Trümmer und Leichenteile vorbeitreiben, wird Ophelia zu Elektra, der Rächerin. Sie verflucht „die Metropolen der Welt“. „Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe.“ 

Heute geht niemand zum Sterben in den Stadt- oder Hochwald, weil Weltbilder kollabieren und Gewißheiten sich als Irrtümer herausstellen. Zu bunt und vielfältig sind die Möglichkeiten, sich zu betäuben und zu belügen. Ganz verdrängen läßt die Wahrheit sich dennoch nicht. In Frankreich wurde die Auslieferung von „Serotonin“ auf den 4. Januar vorverlegt, weil sich am 7. Januar sowohl die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo als auch der Erscheinungstag von „Unterwerfung“ zum vierten Mal jährten. Auf dem Cover der Zeitschrift war damals Houellebecq abgebildet. 

Die „Hamletmaschine“ schließt mit der Prophezeiung Elektras (Ophelias): „Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.“ Von Müllers und Houellebecqs Werken geht eine philosophische Feierabendruhe aus.

Michel Houellebecq: Serotonin. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2019, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro