© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/19 / 25. Januar 2019

Verhängnisvolles Mißverständnis
Kino: Der Dokumentarfilm „Yves Versprechen“ von Melanie Gärtner zeigt, welcher Erfolgsdruck auf einem afrikanischen Migranten lastet
Sebastian Hennig

Viele ambitionierte Familien aus den schwarzafrikanischen Ländern entsenden einen aus ihren Reihen, der ihnen von Europa aus Wohlstand, Gesundheit und Ansehen mehren soll. Die Auswirkungen dieses verhängnisvollen Mißverständnisses hierzulande stehen uns vor Augen. Für jene im Herkunftsland öffnet sie uns der Dokumentarfilm „Yves Versprechen“ von Melanie Gärtner. 

Der Norden des Kontinents ist zum Wartesaal geworden. Die ungewöhnliche Gegenwart einer Europäerin hat unter der Gemeinschaft in dem engen Raum in Tanger einen heftigen Disput über das Herkunftsland Kamerun entfacht. Wie reich es sei an Bananen und Holz, hebt einer immer wieder an. Dann fallen ihm noch Gold und Diamanten ein. Nur hätten nicht alle etwas davon. Eine Frau widerspricht ihm heftig. Sie meint, Kamerun sei zehntausend mal besser als Marokko, das sie sich ganz anders vorgestellt habe. Hätte sie vor dem Aufbruch gewußt, was sie hier erwarte, wäre sie daheim geblieben. Doch das ließe sich nicht mehr ändern. „Die Hoffnungen meiner Familie kann ich nur in Europa erfüllen.“ Nun müsse sie dorthin, wo es besser sei als in Marokko und in Kamerun. 

Während der Arbeit an ihrem ersten Film „Im Land Dazwischen“ (2012) war Gärtner ihrem jetzigen Protagonisten Yves bereits in Ceuta begegnet. Aus Spanien wieder nach Afrika zurückgebracht, traute er sich seiner Familie nicht unter die Augen und begab sich abermals auf den Weg. Gärtner will das verstehen: „Je tiefer ich aber in Yves’ Geschichte eintauchte, desto mehr wurde mir klar, daß auch seine Familie eine große Rolle spielt.“

Tatsächlich wirkt der Mann wie ein Schatten seiner selbst. Dieses Selbst hat er daheim gelassen. Es ist natürlicherweise seine Familie. In Kamerun trifft Gärtner auf den Freund, mit dem er ein Friseurgeschäft eröffnet hatte. Diesen kleinen Laden führt Sylvain nun allein weiter. Er verfügt über die geistige Beweglichkeit seines Berufsstandes, der immer mit vielen im Gespräch ist. „Bei den Weißen soll alles besser sein.“ Ihm selbst liege es nicht im Blut wegzugehen. Was solle er dort? Lieber fährt er dreimal im Monat ins Heimatdorf, kleidet sich dort in die Tracht der Notablen seines Stammes und leiht sein Ohr den Kindern und den Alten. Für den Freund erwartet er nichts Geringeres als ein Wunder, denn so wie er gegangen ist, kann er nicht wiederkehren. Er wünscht ihm, daß er eine tolle Person finden möge, die ihn als Adoptivsohn annimmt. Für Yves verkehrt sich die biblische Geschichte vom wiederaufgenommenen verlorenen Sohn in eine vom verschickten Sohn, der erfolglos nicht heimkehren darf. 

Der erneuten Rückführung hat er sich widersetzt

Während seine Geschwister sich in Haus und Feld betätigten, konnte Yves die Schule besuchen. Die Mutter ist jung gestorben, und nachdem der Vater seine Arbeit im Zementwerk verloren hat, sind sie aufs Dorf gezogen. Der Liebling der Familie wurde ausgeschickt. Hinzu kommt die Geschichte von der Vergewaltigung von Yves Tochter; der nachweisliche Täter kam ungeschoren davon.

Seine Frau lebt heute mit einem Uniformierten zusammen. Sie und ihre Tochter haben keinen Kontakt mehr zu Yves Familie. Schwester Anni meint: „Mit einem Mann in Uniform scherzt man nicht.“ Die üppige Person ist als Händlerin tätig. Mit ihrer disziplinierten Heiterkeit hält sie die Familie zusammen. Der kleine Bruder dagegen hat mit Yves Aufbruch jeden inneren Halt verloren. Yves Vater ist ein würdiger Greis mit beharrlichen Ansprüchen an seinen Sohn. Der soll sich regelmäßig nach seinem Befinden erkundigen und ein Hörgerät übersenden. Die Kinder denken erst an einen Rundfunkempfänger. Der Alte klärt sie auf, es sei ein kleines Ding, welches man im Ohr trage. Die Schwester hat andere Kriterien für den Erfolg. Arbeit und Stabilität, wiederholt sie mehrmals und fügt dann hinzu: Familie. 

Der Film zeigt die daheim sehr lebens-praktisch wirkenden Kameruner und vermittelt eine klare Vorstellung von den unklaren Erwartungen an ein gelobtes Land in der Ferne. Die Regisseurin ist dabei mehr als nur Beobachterin. Zwar nimmt sie für sich in Anspruch, die Erwartungshaltung zu senken. Doch als Zwischenträgerin der Botschaften puffert sie die Katastrophe des Scheiterns ab und motiviert damit neue Anläufe. Auf ihrem Rechner spielt sie wechselseitige Videobotschaften den Familienmitgliedern vor. Welche Aufgaben sie sonst noch übernimmt, läßt der Film im Unklaren. 

„Damit du erreichst, was man in Eu-ropa erreichen sollte.“ Dieser Wunsch des Vaters muß wie eine Drohung in den Ohren Yves tönen, der in Bilbao unter der Brücke schläft. Eines Tages wird er aufgegriffen und kommt ins Abschiebegefängnis von Madrid. Als er sich einer Rückführung widersetzt, läßt man ihn einfach laufen. In einem besetzten Wohnheim schlüpft er unter. 

Die Formulierung, mit der Gärtner ihren Film einschätzt, klingt beinahe schon salomonisch: „In Zeiten, in denen der Ruf nach einfachen, schnellen Lösungen immer lauter wird, ist das ein wichtiger Beitrag zu Besonnenheit und gegenseitiger Anerkennung.“ Tatsächlich hat sie sympathische Menschen dargestellt, denen man nach dem Kinobesuch inständig zurufen möchte: Bleibt euch treu und bleibt uns fern, damit jeder nach seiner Art lebe.